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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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der Ähnlichkeit mit einem Schulzimmer hat. Ich glaube, mein Vater hatte
sich, ohne sich dessen bewußt zu sein, von Anfang an diese Wirkung gewünscht,
gerade so, als wollte er die leeren Räume seiner Kindheit wiedererschaffen. Er
nutzt das Zimmer manchmal als Ausstellungsraum, wenn Mr. Sweetser vom
Eisenwarenladen ihm Interessenten heraufschickt. Die Tischlerei ist für meinen
Vater eine Art berufliche Karriere, obwohl Beruf und Karriere ja eigentlich zu
seinem früheren Leben gehörten und nicht zu dem heutigen.
    In dem Raum, der früher ein Eßzimmer war, hat mein Vater deckenhohe
Bücherregale angebracht und mit seinen Büchern gefüllt. Er hat einen
Ledersessel, ein Sofa und zwei Lampen hineingestellt, einen Teppich auf den
Boden gelegt, und jetzt ist das unser Wohnzimmer. Die Verwandlung der Räume in
etwas, das sie vorher nicht waren – ein Wohnzimmer in einen Ausstellungsraum;
ein Eßzimmer in ein Wohnzimmer; eine alte Scheune in eine Werkstatt –, hat
meinem Vater ein unnatürliches Vergnügen bereitet. Gleich hinter der Küche ist
ein langer Gang mit cremefarbener Täfelung und einer Reihe stabiler Haken in
Schulterhöhe. An einem zweiten Flur liegt ein kleiner Raum, mit dem mein Vater
nichts anzufangen wußte. Er machte ihn sauber und stapelte alle Kartons darin,
die er nicht öffnen wollte. Die Folge war, daß aus der Kammer eine Art
Allerheiligstes wurde, das keiner von uns je betritt.
    Im oberen Stock sind drei Zimmer: eins für mich, eins für meinen
Vater und das dritte für meine Großmutter, wenn sie zu Besuch kommt.
    Die Küche ist der einzige Raum, in dem mein Vater nichts gemacht
hat. Sie hat eine Arbeitsplatte aus rotem Resopal und eine Schiebetür in
braunem Metallrahmen, die auf eine Holzveranda hinausgeht. Obwohl gerade dieser
Raum Renovierung am dringendsten nötig hätte, betritt mein Vater ihn nur, um
rasch etwas zuzubereiten, eine Tasse Kaffee oder ein Brot oder ein rudimentäres
Abendessen für uns beide. Gegessen haben wir dort drinnen noch nie; wir nehmen
unsere Teller mit ins Wohnzimmer, wenn wir zusammen essen, oder er nimmt seinen
in die Werkstatt mit und ich meinen in mein Zimmer, wenn wir getrennt essen.
    Wir essen nie in der Küche, weil in unserem früheren Dasein in New
York die Küche der Mittelpunkt unseres häuslichen Lebens war. Die beiden Räume
haben kaum Ähnlichkeit miteinander, aber die Erinnerung an die Küche von damals
kann jeden von uns jederzeit aus der Fassung bringen.
    Der Tisch lag immer halbvoll mit Zeitschriften und Post. Meine
Eltern nahmen es beide mit der Ordnung im Haus nicht so genau, und mit Clara,
die gerade erst ein Jahr alt war, wurde ein bißchen Durcheinander schnell zum
Chaos. Meine Mutter bereitete das Essen für Clara in dem Cuisinart-Mixer auf
einer Arbeitsplatte, auf der ein elektrisches Küchengerät neben dem anderen
stand: ein Entsafter, eine Küchenmaschine, ein Mikrowellenherd und eine
Kaffeemühle, die ein Getöse machte wie ein Preßlufthammer und Clara
unweigerlich weckte, wenn sie gerade schlief. Zwischen einem Tisch und einem
kleinen Geschirrschrank war eine Babyschaukel, in der sich Clara mit Sabber am
Kinn immerhin so lange zu amüsieren pflegte, daß meine Eltern in Ruhe das Essen
machen konnten. Beim Abendessen saß Clara bei meinem Vater auf dem Schoß und
stopfte sich mit drallen kleinen Händen die Speisen in den Mund, mit denen er
sie bekannt machte. Wenn sie quengelig wurde, schuckelte er sie auf dem Knie,
und waren wir schließlich mit dem Essen fertig, so prangten vorn auf seinem
Hemd Kleckse in Karottengelb, Soßenbraun und Erbsengrün.
    In meinem Album habe ich ein Bild von meiner Mutter, wie sie mit
Clara auf der Hüfte am Küchentresen sitzt und zu essen versucht. Clara hat
einen Finger im Mund, und meine Mutter steht mit dem Rücken zu mir, etwas
verwackelt, als wippte sie Clara auf und nieder, um sie bei Laune zu halten. Im
Küchenfenster gegenüber von meiner Mutter sieht man den grellen Widerschein
eines Blitzlichts. Und innerhalb des Lichtrings kann ich gerade noch meinen
Vater erkennen, ein Bier in der Hand, den Mund geöffnet, um zu trinken. Ich
habe keine Ahnung, warum ich es für nötig hielt, dieses Foto zu machen, warum
ich es für wichtig hielt, meine Mutter von hinten einzufangen und Clara mit dem
Finger im Mund. Vielleicht war der Apparat neu, und ich wollte

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