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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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schimmert bläulich und ist schlaff und gerunzelt. »Ja, es
tut weh«, antwortet er bedächtig, »aber jede Geburt ist anders.«
    Â»Hat Mum Schmerzen gehabt, als ich auf die Welt gekommen bin?«
    Mein Vater wirft den Schneeball mit Wucht gegen den Baum. »Ja«, sagt
er. »Und wenn sie jetzt hier wäre, würde sie dir sagen, daß jede Minute es wert
war.«
    Knirschende Schritte im Schnee schrecken uns beide auf, und als wir
uns umdrehen, sehen wir keine zehn Schritte entfernt Warren mit dem karminroten
Schal um den Hals. »Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagt er.
    Â»Von wegen!« brummt mein Vater.
    Die Hände in den Manteltaschen, steht Warren da, im tiefsten Winter
auf einem reichlich seltsamen Spaziergang hinter einem Motel. »Ich war bei
Ihnen, aber da hat sich nichts gerührt. Daraufhin bin ich auf gut Glück
hierhergefahren.« Er kommt einen Schritt näher. »Sie mußten die Stelle noch mal
sehen, stimmt’s?«
    Er setzt seine Füße in den Timberland-Stiefeln in die Abdrücke, die
seine Leute am Abend zuvor hinterlassen haben.
    Â»Die Menschen sind berechenbar, Mr. Dillon«, fügt er hinzu.
»Wir kehren an die Orte zurück, an denen wir eine innere Erschütterung erlebt
haben. Liebespaare tun es ständig.«
    Er kommt weiter auf uns zu, ein bedächtiger Schritt nach dem
anderen. »Ihr Name steht heute überall in der Zeitung, Mr. Dillon. Es hat
mich erstaunt, Channel 5 nicht bei Ihnen anzutreffen. Ihr Haus ist übrigens
sperrangelweit offen.«
    Â»Sie sind reingegangen«, sagt mein Vater.
    Â»Ich habe Sie gesucht, weil ich Ihnen über die Kleine berichten
wollte. Ich bin die ganze Straße zu Ihnen raufgefahren, da wollte ich nicht
einfach wieder umkehren, ohne nachzusehen, ob Sie da sind. Sie machen übrigens
schöne Möbel.«
    Mein Vater schweigt, nicht bereit, sich von der Schmeichelei aus der
Reserve locken zu lassen.
    Â»Der Kleinen geht es gut«, fährt Warren fort.
    Mein Vater schlägt einen Schneeschuh gegen einen festgefügten
pappigen Schneehaufen.
    Â»Wir stehen auf derselben Seite, Mr. Dillon«, sagt Warren.
    Â»Und welche Seite ist das?«
    Â»Sie haben das Kind gefunden und ihm das Leben gerettet«, erklärt
Warren, während er eine Zigarette aus einer Packung Camel klopft und sie mit
einem Feuerzeug anzündet. »Rauchen Sie?« fragt er.
    Mein Vater schüttelt den Kopf, obwohl er sehr wohl raucht.
    Â»Und ich suche jetzt den Kerl, der das getan hat«, sagt Warren. »So
funktioniert das. Wir sind ein Team.«
    Â»Wir sind kein Team«, widerspricht mein Vater.
    Â»Ich habe in Westchester angerufen«, berichtet Warren, »und mit
einem Mann namens Thibodeau gesprochen. Erinnern Sie sich an Thibodeau?«
    Sogar ich erinnere mich an Thibodeau. Officer Thibodeau suchte uns
am Morgen nach dem Unfall mit der Nachricht auf, die uns schon bekannt war.
Mein Vater schrie ihn an, er solle schleunigst von unserer Treppe verschwinden.
    Â»Eine schreckliche Geschichte«, fügt Warren hinzu. »Ich hätte
wahrscheinlich genauso gehandelt wie Sie – ich wäre fortgezogen und hätte mir
ein neues Leben aufgebaut. Ich weiß allerdings nicht, wohin ich gegangen wäre.
Vielleicht nach Kanada. Vielleicht auch in die Stadt. Da ist man anonym.«
    Ich habe mir das orangefarbene Band um den Handschuh gewickelt. Ich
ziehe noch einmal daran.
    Â»Ich habe zwei Söhne, acht und zehn«, sagt Warren.
    Â»Komm, Nicky, gehen wir«, sagt mein Vater.
    Â»Ich will diesen Kerl schnappen«, sagt Warren.
    Â»Ich glaube, wir sind hier fertig«, sagt mein Vater.
    Warren läßt die Zigarette, an der er nur ein paarmal gezogen hat, in
den Schnee fallen. Er holt die Handschuhe aus der Tasche und schiebt seine
Hände hinein.
    Â»Niemand ist hier fertig«, sagt er.

 
    Â  ZU HAUSE RUFT MEIN VATER
GLEICH Dr. Gibson an. Ich lungere im Wohnzimmer herum, damit ich ihn drüben in
der Küche hören kann.
    Â»Ich
wollte nur fragen, wie es der Kleinen geht«, höre ich ihn sagen.
    Â»Das ist doch gut, nicht wahr?« fragt er.
    Â»Und wo ist sie jetzt?« fährt er fort.
    Â»Wie lange wird sie dort bleiben …?«
    Â»Hat sie schon einen Namen …?«
    Â»Baby Doris«, wiederholt mein Vater. Sein Ton ist überrascht, ja,
schockiert. »Sie kommt in Pflege, sagen Sie …«
    Â»Es klingt

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