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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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ihn
ausprobieren. Vielleicht wollte ich auch meine Mutter ärgern. Ich weiß es nicht
mehr.
    Ein anderes Foto zeigt meine Mutter mit mir im Arm in unserem Garten
unter einem Schneeballstrauch. Meine Mutter trägt das lange, dicke hellbraune
Haar in einer Lockenfrisur, wie sie vielleicht 1972, als ich ein Jahr alt war,
Mode war. Ihre karierte Bluse steht am Hals offen, darüber hat sie eine
rostfarbene Wildlederjacke an. Ich denke, es wird so im September gewesen sein.
Sie wirkt sehr präsent auf dem Foto, mit einem leichten Lächeln zu meinem
Vater, der geknipst hat. Ich habe eine rosarote Mütze auf und scheine an meiner
Faust zu lutschen. Ich habe das Haar meiner Mutter geerbt und ihren großen
Mund, aber die Augen habe ich von meinem Vater. Kurz nachdem dieses Bild
gemacht wurde, hat meine Mutter sich die Haare abschneiden lassen, und ich habe
sie nie wieder mit langem Haar gesehen.
    Ich gehe zur Scheune hinaus. Mein Vater sitzt mit seinem Kaffee
auf dem Stuhl am Ofen. Auf dem Boden liegen Sägemehlhäufchen, in der Ecke
stehen Plastiksäcke mit Spänen. Kleinste Teilchen schweben in der Luft wie sich
lichtender Nebel an einem Sommertag. Ich beobachte ihn, wie er den Becher auf
den Sims stellt und den Kopf senkt. Das tut er oft, wenn er nicht weiß, daß ich
da bin. Er faltet die Hände, die Ellbogen auf den Oberschenkeln, die Beine
gespreizt. Sein Schmerz ist körperlos geworden – keine Tränen mehr, kein
Brennen in der Kehle, keine Wut. Er ist reine Dunkelheit, stelle ich mir vor,
ein schwerer Mantel, der ihm manchmal das Atmen erschwert.
    Â»Dad«,
sage ich.
    Â»Ja?« Er hebt den Kopf und wendet sich zu mir.
    Â»Heute fällt die Schule aus«, sage ich.
    Â»Wie spät ist es?«
    Â»Zehn ungefähr.«
    Â»Du hast lange geschlafen.«
    Â»Ja.«
    Durch das Werkstattfenster kann ich gleich hinter den Kiefern einen
schmalen Streifen See erkennen – grünes Glas im Sommer; blau im Herbst; und im
Winter nur ein Stückchen Weiß. Links vom See ist ein verlassener Skihügel, auf
dem nur drei Bahnen gespurt sind. Es sind noch Überreste eines Sessellifts da,
und oben auf dem Gipfel steht eine kleine Hütte. Es heißt, daß früher der
Liftführer, ein freundlicher Mensch namens Al, jeden Skifahrer begrüßte, der
vom Sessel sprang.
    Jenseits der Lichtung, die mein Vater gerodet hat, wird der Wald
sofort dunkel und dicht. Im Sommer wimmelt es da von Moskitos und
Kriebelmücken, ich muß mich immer einsprühen. Mein Vater denkt daran, um die
Veranda ein Fliegengitter zu ziehen, und ich vermute, er wird vielleicht in
ein, zwei Jahren dazu kommen.
    Â»Hast du schon gefrühstückt?« fragt er.
    Â»Nein.«
    Â»Es sind Toasties da. Und Marmelade.«
    Â»Ich esse sie auch ganz gern mit Erdnußbutter«, sage ich.
    Â»Deine Mutter hat immer Erdnußbutter und Hüttenkäse in einer
Schüssel gemischt«, erzählt er. »Mich hat’s geekelt, aber sie hat das so gern
gegessen, daß ich ihr nie gesagt habe, wie widerwärtig ich es fand.«
    Ich halte den Atem an und blicke in meinen Becher hinunter. Mein
Vater spricht fast nie von meiner Mutter, es sei denn, ich stelle ihm eine
direkte Frage.
    Ich beiße die Zähne aufeinander und drücke die Fingernägel in meine
Hand. Ich weiß, wenn mir jetzt die Tränen kommen, wird das für eine geraume
Zeit die letzte Erinnerung sein, die er mit mir teilt.
    Ich sehe einen kleinen Stein, der sich aus einer Mauer löst; er wird
angestupst, bis er herausbricht. Die anderen Steine verschieben sich,
gruppieren sich neu, um die Lücke zu schließen, aber es bleibt ein kleines
Leck, durch das Wasser in Form von Erinnerungen zu sickern beginnt.
    Ein Leck .
    Im September ist das Wort in der Schule in einem Diktat vorgekommen.
Ein einfaches Wort, aber ich habe es falsch geschrieben.
    Â»Wetten, daß wir die Stelle wiederfinden«, sage ich und lasse ihn
damit wissen, warum ich im Zimmer bin. »Wenn wir nahe genug herankommen,
erkennen wir sie an der orangefarbenen Absperrung.«
    Wieder sehe ich vor mir das Neugeborene, das reglos im Schlafsack
liegt. Was wäre geschehen, wenn wir gestern nicht diese Wanderung gemacht
hätten? Was, wenn wir die Kleine nicht gefunden hätten? Das Glück, beginne ich
zu erkennen, ist etwas genauso Verwirrendes wie das Unglück. Nie scheint es
einen Grund dafür zu geben – es zeigt sich weder als

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