Stille über dem Schnee
Belohnung noch als
Bestrafung. Es ist einfach â das Unbegreiflichste
überhaupt.
Ich überlege, ob der Fundort noch von der Polizei bewacht wird.
Nein, sage ich mir; welchen Grund gäbe es dafür? Das Verbrechen ist geschehen,
alle Spuren und Hinweise müssen inzwischen gesammelt sein. Ich stelle mir den
Schlafsack und das blutige Handtuch sicher verwahrt in Plastikbeuteln in einem
Regal auf einer Polizeidienststelle vor. Ich denke an den Kriminalbeamten mit
den Narben. Er wird jetzt schon mit einem anderen Verbrechen beschäftigt sein.
Mein
Vater schweigt.
»Also gut«, sage ich. »Dann gehe ich eben allein.«
Im hinteren Korridor nehme ich meine Jacke vom Haken, setze meine
Mütze auf und ziehe die Fäustlinge an. DrauÃen vor der Tür schnalle ich meine
Schneeschuhe an und mache den ersten Schritt. Die Schuhe greifen nicht auf dem
Eis. Ich rutsche, suche, mit den Armen wedelnd, nach Halt. Nach einem Dutzend
Schritten und einem schmerzhaften Sturz schlittere ich, krampfhaft bemüht, die
FüÃe unter mir zu behalten, an der Mauer entlang zur Tür zurück. Ich öffne die
Riemen. Wenn mein Vater meine Rutschpartie beobachtet und sich darüber amüsiert
hat, erwähnt er es mit keinem Wort.
Ich gehe wieder ins Haus. Ich streiche mir ein Toastie mit
ErdnuÃbutter und denke an meine Mutter mit ihrem Hüttenkäse. Ich gehe in mein
Zimmer hinauf, das mit einem Yankeebanner und einem Poster von Garfield
dekoriert ist. Auf eine Wand habe ich ein vielfarbiges Panorama aller Skiberge
in Neuengland gemalt â Sunday River, Attitash, Loon Mountain, Bromley,
Killington, King Ridge, Sunapee und andere. Ich habe die ganzen
Weihnachtsferien im letzten Jahr gebraucht, um das Gemälde anzufertigen, und ich
finde, es ist eine gute und anschauliche Ãbersicht geworden. Alle Berge, die
ich schon runtergefahren bin, haben schneebedeckte Gipfel; bei den anderen sind
die Spitzen grün.
In meinem Zimmer steht auch das einzige Radio, das im Haus erlaubt
ist. Ich darf einschalten, was ich will, Hauptsache, auÃerhalb meines Zimmer
ist davon nichts zu hören. Manchmal bittet mein Vater mich, nach oben zu gehen
und zu hören, was der Wetterbericht sagt, aber das ist das einzige, was er vom
Radio wissen will.
Wir haben kein Fernsehen und bekommen keine Zeitung. Als wir hier in
New Hampshire angekommen sind, hat mein Vater es mit der Lokalzeitung versucht.
Eines Morgens brachte sie auf der Titelseite einen Bericht über eine Frau, die
mit ihrem Oldsmobile Cutlass zurückgestoÃen war und dabei ihren vierzehn Monate
alten Sohn überfahren hatte. Mein Vater stand auf, ging aus dem Wohnzimmer in
die Küche und stopfte die Zeitung in den Mülleimer. Und das warâs.
Ich habe in meinem Zimmer eine Staffelei und Farben und einen
Sessel, der, wenn wirklich mal eine Freundin bei mir übernachtet, zu einem Bett
umfunktioniert werden kann. An meinem Schreibtisch mache ich Perlenschmuck, und
zum Lesen lege ich mich aufs Bett. Mein Vater hat mich eine Zeitlang immer
ermahnt, mein Bett zu machen, bis ich ihn einmal darauf hingewiesen habe, daÃ
er seins auch nie macht, von da an hat er nichts mehr gesagt. Ich hasse es,
jede Woche in den Waschsalon fahren zu müssen. Ich wollte, wir hätten eine
Waschmaschine. Ich habe mir eine zu Weihnachten gewünscht.
Am Nachmittag beim Lesen höre ich es drauÃen tropfen wie bei einem
Sommerregen. Ich gehe zum Fenster und schaue hinaus. Es taut. Die Welt rund um
das Haus wird weicher, die verkrustete Schneedecke beginnt sich zu lösen.
Ich gehe zur Scheune hinaus.
»Meinetwegen«, sagt mein Vater und blickt auf. »Gehen wir.«
Aber sich in schwerem, feuchtem Schnee auf Schneeschuhen
fortzubewegen, das ist beinahe so anstrengend wie auf Eis damit zu laufen. Bei
jedem Schritt brechen wir durch die weicher werdende Kruste, bei jedem Schritt
verlieren wir das Gleichgewicht. Noch bevor wir dreiÃig Meter gegangen sind,
beginnen meine Beine zu schmerzen. Das Licht wird grau und stumpf, die
unangenehmste Art der Beleuchtung beim Wandern oder Skilaufen. Ich kann Buckel
und Furchen nicht mehr erkennen, und manchmal ist es, als trieben wir auf Nebel
dahin. Wir überqueren die Lichtung, die im Sommer grüner Rasen ist, und tauchen
danach in den Wald ein.
Ich spähe mit zusammengekniffenen Augen in das scheuÃliche Licht und
versuche, den dünnen Spuren unseres gestrigen Marsches zu folgen. Ab und
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