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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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zu
können wir den Weg nur erraten, weil Schneeverwehungen die Abdrücke zugedeckt
haben, bevor es zu gefrieren begann. Ich sehe die in umgekehrter Richtung
verlaufende Spur und erinnere mich an unsere wilde Hetze am Tag zuvor, mit dem
Kind in den Armen meines Vaters. Mein Atem geht in schnellen, harten Stößen,
und ich bemerke, daß auch mein Vater das Tempo verschärft hat. Wir suchen nach
der Stelle, wo wir den Anstieg abgebrochen haben und, von den Schreien des
Kindes alarmiert, seitlich abgeschwenkt sind, um den Hügel herum. Ich kann die
Vorstellung nicht abschütteln, daß die Kleine ausdrücklich uns gerufen hat.
    Bitte kommt und holt mich .
    Ãœber uns pfeift in den Kiefern ein dünner Wind, der die Wipfel
beugt und Schneeklumpen, klein und hart wie Tischtennisbälle, auf die Kruste
wirft. Ich bin schweißnaß unter meinem Parka und öffne den Reißverschluß, um
die Haut von der Luft kühlen zu lassen. Ich ziehe die Mütze vom Kopf und stopfe
sie in eine Tasche. Mit den Händen biege ich die niedrigen Zweige auseinander.
Ich fürchte, wir haben die Spur verloren, aber mein Vater läuft unbeirrt
weiter.
    Meinem
Vater gehören ungefähr acht Hektar Felsen, Wald und hügelige Wiesen. Das ganze
Holz für seine Möbel stammt von seinem Stück Land: Walnuß, Eiche und Ahorn;
Kiefer, Kirsche und Tamarak. Die hiesige Holzhandlung hat das Holz geschnitten
und bearbeitet und einen Vorrat an glatten, sauberen Brettern angelegt, den
mein Vater nicht in Jahren aufbrauchen wird.
    Nach einiger Zeit findet mein Vater unsere frühere Spur wieder, und
wir folgen ihr in ruhigerem Tempo. Nach ungefähr einer Viertelstunde entdecke
ich in der Ferne einen Schimmer Orange. »Da ist es«, sage ich.
    Wir nähern uns der abgesperrten Stelle. Der Kreis aus orangefarbenem
Plastikband, das man zwischen den Bäumen hindurchgeführt hat, öffnet sich zu
einem Spalier zurück zum Motel, wie für eine Braut, die von der Trauung unter
freiem Himmel zurückkehrt. Im Innern des Kreises sind noch die weiche Mulde, in
welcher der Schlafsack gelegen hat, ein Abdruck vom Schneeschuh meines Vaters,
dessen Umriß mit einem dünnen Band roter Sprühfarbe markiert ist, und, ähnlich
gekennzeichnet, ein Stiefelabdruck Größe zehneinhalb zu sehen. Den
Stiefelabdruck hat am Abend zuvor keiner von uns beiden bemerkt. Ich überlege,
ob die Polizei die Taschenlampe meines Vaters gefunden hat und ob es sich lohnt
zu versuchen, sie wiederzubekommen. Hat mein Vater Warren überhaupt von der
Taschenlampe erzählt? Ich versuche, mich zu erinnern. Oder glauben sie
vielleicht, sie hätte dem anderen gehört, und werden nun einen Haufen Zeit
damit verschwenden, den Eigentümer zu finden?
    Wir gehen um den Kreis herum und bleiben mit dem Rücken zum Motel
stehen. Ich betrachte die Mulde, wo der Schlafsack gelegen hat.
    Â»Dad«, sage ich. »Warum hat er das Baby in einen Schlafsack gelegt,
wenn er es doch umbringen wollte?«
    Mein Vater schaut zu den kahlen Ästen der Bäume hinauf. »Ich weiß es
nicht«, antwortet er. »Vielleicht wollte er nicht, daß es friert.«
    Â»Das ergibt doch keinen Sinn«, widerspreche ich.
    Â»Nichts daran ergibt einen Sinn.«
    Ich ziehe an dem Plastikband, um zu sehen, ob es sich dehnt. »Was
glaubst du, wie sie das Baby nennen werden?« frage ich.
    Â»Ich weiß es nicht«, sagt er.
    Â»Vielleicht geben sie ihm unseren Nachnamen. Vielleicht nennen sie
es Baby Dillon. Weißt du noch, so haben sie Clara genannt, Baby Baker-Dillon.«
    Eine Weile stehen wir schweigend da, und ich weiß, daß mein Vater an
Baby Baker-Dillon denkt. Ich spüre es, es geht in Wellen von ihm aus. Ich habe
das Band jetzt um meinen Fäustling gedreht.
    Â»Dad?«
    Â»Was?«
    Â»Warum war in dem Motelzimmer so viel Blut und so?«
    Mein Vater hebt eine Handvoll feuchten weichen Schnee auf und formt
daraus eine Kugel. »Wenn eine Frau ein Kind zur Welt bringt, blutet es immer«,
erklärt er. »Und der sogenannte Mutterkuchen, der das Baby im Mutterleib
ernährt, ist auch voll Blut. Er wird nach der Geburt ausgestoßen.«
    Â»Das weiß ich schon«, sage ich.
    Â»Das Blut war also ganz natürlich. Es hat nicht zu bedeuten, daß die
Frau verletzt wurde.«
    Â»Aber es tut doch weh, oder?«
    In diesem stumpfen grauen Licht sieht mein Vater alt aus. Die Haut
unter seinen Augen

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