Stille über dem Schnee
so â¦Â«
Offenbar macht Dr. Gibson eine Bemerkung über Pflegestellen und
Adoption, denn mein Vater sagt: »Ja, kalt.«
Ich höre, daà er sich eine Tasse Kaffee eingieÃt. »Und wenn es auf
dem üblichen Weg nicht klappt, was geschieht dann?«
»Aber sie käme doch vor Gericht �«
»Danke«, sagt mein Vater. »Ich wollte mich nur vergewissern, daà es
der Kleinen gutgeht.«
Er legt auf. Ich gehe in die Küche. Er trinkt lauwarmen Kaffee und
schaut zum Küchenfenster hinaus. »Hey«, sagt er, als er mich hört.
»Gehtâs ihr gut?« frage ich.
»Ja, alles in Ordnung.«
»Sie haben sie Baby Doris genannt?«
»Anscheinend, ja.« Er stellt den Kaffeebecher weg. »Ich muà mal zu
Sweetser«, sagt er. »Willst du mitkommen?«
Eine Fahrt in den Ort? Da braucht mich keiner zweimal zu fragen.
Beim Eintreten in das Eisenwarengeschäft hält mein Vater mir
die Tür auf. Mr. Sweetser schaut von der Zeitung hoch, die neben der Kasse
ausgebreitet auf dem Verkaufstisch liegt. »Unser Held«, sagt er.
»Ach,
Sie haben es schon gehört«, erwidert mein Vater.
»Es steht auf der ersten Seite. Schauen Sie.«
Mein Vater und ich gehen zum Verkaufstisch. Ich lese die Schlagzeile
der Zeitung, die für ihre Berichte über die Sportereignisse an der High-School,
ihre Sonntagscomics und Verkaufsgutscheine für die örtlichen Geschäfte bekannt
ist: Säugling im Schnee gefunden . Darunter ist eine
etwas kleiner gedruckte zweite Schlagzeile: Ortsansässiger
Tischler findet noch lebenden Säugling in blutigem Schlafsack . Ich beuge
mich tiefer über den Verkaufstisch und lese gleichzeitig mit meinem Vater den
Bericht. Im groÃen und ganzen stimmt das, was der Reporter geschrieben hat. Es
ist von dem Motel die Rede, von dem Volvo und von der dunkelblauen
Seemannsjacke. Von mir nicht.
»Sie haben Ihren Namen falsch geschrieben«, bemerkt Sweetser.
»Ja, ich habâs gesehen«, antwortet mein Vater.
Dylan . Das passiert ständig.
»Soll ich ihn Ihnen ausschneiden?«
Mein Vater schüttelt den Kopf.
»Also, wie war das?« fragt Sweetser.
Mein Vater macht seine Jacke auf. Der Laden wird von einem
wankelmütigen Ofen in der Ecke beheizt, der dafür sorgt, daà die Temperatur
ständig zwischen dreiÃig und fünfzehn Grad schwankt. Heute fühlt es sich an wie
siebenundzwanzig.
»Nicky und ich waren auf einer Wanderung, da hörten wir einen
Schrei«, berichtet mein Vater. »Erst dachten wir, es wäre ein Tier. Aber dann
hörten wir, wie eine Autotür zugeschlagen wurde.«
»Und das Baby hat in einem Schlafsack gelegen?« fragt Sweetser.
Mein Vater nickt.
»Wahnsinn«, sagt Sweetser und streicht sich über die rosaschimmernden
Haarsträhnen. Er hat vor kurzem seinen Bart abrasiert, und darunter ist ein
fliehendes Kinn hervorgekommen, dazu ein merkwürdig bleicher Teint wie bei
einem Tier, das sich gerade gehäutet hat. »Man sollte es nicht für möglich
halten.«
»Nein«, stimmt mein Vater zu.
»Das ist wie in den Märchen, die meine Frau immer den Kindern
vorgelesen hat«, fährt Sweetser fort. »Der Tischler geht in den Wald und findet
ein neugeborenes Kind.«
»Im Märchen wäre es eine Prinzessin«, sagt mein Vater.
»So ein Glück sollte man haben«, meint Sweetser.
Für einen Eisenwarenhändler mitten im Niemandsland zwischen Hanover
und Concord führt Sweetser ein beeindruckendes Sortiment an Artikeln. Er mag
es, wie die Dinge in der Hand liegen, pflegt er ähnlich wie mein Vater zu
sagen. Auf die Regale mit den Werkzeugen folgen andere mit Jenaer Glasgeschirr,
Kartons mit Miracle-Gro-Dünger (staubig jetzt im Winter) und Eimern voll
Sherwin-Williams-Farbe. Zum Laden gehört ein schuppenähnlicher kleiner Anbau,
in dem Sweetser Antiquitäten im weitesten Sinn verkauft: Viele Stücke stammen
aus den sechziger Jahren.
»War übrigens das Pärchen letzten Freitag bei Ihnen oben?« fragt
Sweetser.
»Welches Pärchen?«
»Ich habe ein paar Touristen zu Ihnen raufgeschickt, die nach einem
Shakertisch gefragt haben. Ich hab gesagt, daà Sie bestimmt so einen machen
können.«
»Die sind nie erschienen«, sagt mein Vater.
»Ihre StraÃe ist ScheiÃe«, sagt Sweetser.
Er sagt das schon, seit wir hierhergezogen sind. Seit über
Weitere Kostenlose Bücher