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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Plage, aber ich stellte mir vor, wie sie in die Gräser und
Wiesenblumen hineinlief und ihr Scheitel sich unter dem Gelb und dem Rosarot
verlor; oder sie grapschte nach einer Himbeere und stieß ein ganzes Körbchen um.
Ich stellte mir vor, sie läge bäuchlings auf meinem Klapptisch und machte ein
Nickerchen, während ich ihren Rücken streichelte.
    Am Sonntag ist der Todestag meiner Mutter und meiner kleinen
Schwester. Ich weiß es, und mein Vater weiß es, aber keiner von uns hat ein
Wort darüber gesagt. Ich weiß, daß mein Vater daran denkt, weil er dauernd von
der Scheune zum Haus läuft und wieder zurück, als wüßte er nicht, was er mit
sich anfangen soll. Er sieht mich an, wenn er glaubt, ich merke es nicht. Er
möchte etwas sagen, aber er weiß nicht, was mit uns geschehen wird, wenn er es
tut. Gegen Mittag duscht er, so spät tut er das sonst nie, und bleibt danach
lange in seinem Zimmer, wo, wie ich weiß, ein Bild von meiner Mutter mit mir
und Clara steht. Ich bin zwölf Jahre alt und mir der Bedeutung besonderer Tage
im Leben heftig bewußt. Ich finde, dieser Tag sollte herausgehoben werden aus
dem Rest der Tage.
    Â»Dad«,
sage ich, als er endlich aus seinem Zimmer kommt. »Können wir mal rüber zu
Butson’s fahren?«
    Â»Wozu?« fragt er.
    Â»Ich glaube, da gibt’s Blumen.«
    Er fragt mich nicht, was ich mit Blumen will.
    Seit zwei Tagen scheint die Sonne. Ich lasse meine Jacke offen. Mein
Vater trägt nur einen Pulli. Er ist rasiert, seine Haare sind frisch gewaschen,
es ist nicht peinlich, sich mit ihm zu zeigen, und das ist schon ein
Fortschritt im Vergleich zum letzten Jahr. Am ersten Jahrestag des Unfalls
hockte mein Vater den ganzen Tag in der Scheune und rührte sich nicht von der
Stelle. Ich fühlte mich einsam und verlassen und brauchte dringend Trost, aber
ich hatte nicht den Mut, in die Scheune zu gehen und mir anzusehen, was ich
dort wahrscheinlich vorfinden würde: meinen Vater in starrer Haltung, den Mund
geöffnet, als wäre seine Nase verstopft, die Augen blicklos, einzig von Bildern
aus der Vergangenheit erfüllt. Statt dessen blätterte ich in meinem Album,
fädelte Perlen zu einer Halskette auf, ging ans Telefon, als meine Großmutter
anrief, und weinte dann so lange, daß sie mir schließlich auftrug, meinen Vater
zu holen.
    Bei Butson’s geht mein Vater zu den Geschirrspülmitteln, während ich
vor den Kühlregalen stehenbleibe, in denen die Blumensträuße liegen. Es gibt
Margeriten und Nelken, Rosen und Schleierkraut, und obwohl die Sträuße alle
ziemlich gleich aussehen, stehe ich lange da und überlege, welcher der schönste
ist. Das Rosarot der Nelken sieht künstlich aus, und das stört mich. Ein
Strauß, beinahe ganz in Gelb, hat in der Mitte eine gruselig aussehende hohe
Blume, vielleicht eine Lilie.
    Â»Der ist doch hübsch«, meint mein Vater und deutet auf einen Strauß
in Weiß und Lavendelblau.
    Â»Wie heißen die blaulila Blumen?« frage ich.
    Â»Keine Ahnung.«
    Â»Glaubst du, sie würden Mum gefallen?«
    Â»Ja«, antwortet er.
    Auf der Heimfahrt halte ich den Strauß fest in der Hand, während ich
überlege, wohin ich ihn stellen soll. In einem unserer Küchenschränke steht ein
Einmachglas. Das könnte gehen, denke ich, aber ich lasse sie nicht in der
Küche. Ich stelle sie vielleicht auf den Couchtisch im Wohnzimmer, aber das
kommt mir ein bißchen gewöhnlich vor. Wenn ich sie ins Zimmer meines Vaters
stelle, kann ich sie nicht sehen. Schließlich stelle ich sie auf die Konsole im
hinteren Flur. Ich setze mich gegenüber auf die Bank und bewundere die Blumen.
Mein Vater sagt: »Sieht hübsch aus«, und geht zur Scheune hinaus.
    Aber irgend etwas paßt mir immer noch nicht. Sie sind hier drinnen
im Haus nicht am richtigen Ort, und, was noch wichtiger ist, ich fürchte, daß
meine Mutter und Clara sie hier nicht sehen können. Das ist natürlich völlig
unlogisch – wenn Clara und meine Mutter Geister geworden sind, die zur Erde
hinuntersehen, dann können sie bestimmt auch durch Wände hindurchsehen –,
trotzdem kann ich das Unbehagen nicht abschütteln. Ich ziehe also meine Jacke
über und gehe mit dem Glas bis zum Rand der Lichtung direkt am Wald. Hier
stelle ich es in den Schnee.
    Dann trete ich zurück. Die Blumen wirken lebendiger im Sonnenschein.
Ich

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