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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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über meinen Vater wußte. Ich
frage mich, was ich noch alles nicht weiß. Er schenkt sich eine Tasse Kaffee
ein. Ich nehme die Milch aus dem Kühlschrank.
    Â»Ich sollte raufklettern und schippen«, sagt er.
    Â»Ich helfe dir«, sage ich begeistert. Die Vorstellung, auf das Dach
zu klettern und von dort oben auf unser kleines Reich zu blicken, ist
aufregend.
    Â»Ich hasse es, auf dem Dach zu arbeiten«, sagt er wieder.
»Andererseits graut mir bei dem Gedanken, daß hier tagelang ein ganzer Trupp
Leute rumhängt.«
    Natürlich. Das ist sowieso klar.
    Â»Noch eine Woche«, sagt er, »dann hast du Weihnachtsferien.«
    Zu Weihnachten kommt meine Großmutter. Wie immer. Dann kocht sie für
uns, hängt Strümpfe für die Geschenke auf und »richtet uns ein schönes Fest«,
wie sie gern sagt. Mein Vater macht höflichkeitshalber gute Miene, aber ich mag
die Plätzchen und die mit Gewürznelken gespickten Orangen und den Anblick der
unter dem Baum ausgebreiteten Geschenke.
    Â»Zieh dich jetzt mal besser an«, sagt er, »sonst verpaßt du noch den
Bus.«
    Â»Sollen wir nicht erst mal nachfragen? Vielleicht ist heute wieder
schneefrei.«
    Â»Ich finde, du solltest dich anziehen«, sagt er.
    In der Schule bin ich der Star. Obwohl mein Name nicht in der
Zeitung gestanden hat, wissen anscheinend alle, daß ich dabei war, als das Baby
gefunden wurde. Ich werde nach Einzelheiten ausgequetscht, die leicht zu
liefern sind. Ich erzähle, wie wir die Schreie gehört und das Kind gefunden
haben, wie wir ins Krankenhaus gefahren sind und wie wir von einem
Kriminalbeamten befragt wurden.
    Â»War
der Schlafsack wirklich voll Blut?« fragt mich Jo in der Garderobe. Jo ist
beinahe so groß wie mein Vater. Sie hat blonde Haare, die ihr aus dem Gesicht
nach hinten wehen wie bei einer Göttin am Bug eines Wikingerschiffs.
    Â»Nur ein bißchen«, antworte ich. »Blutig war hauptsächlich das
Handtuch.«
    Â»Wenn man ein Kind kriegt, dann blutet es also?« fragt sie.
    Â»Ja, natürlich«, sage ich.
    Â»Woher kommt das Blut?«
    Â»Vom Mutterkuchen«, antworte ich und knalle meine Spindtür zu.
    Â»Oh.« Jo ist verwirrt.
    Die Tatsache, daß ich aus New York hergezogen bin, hat mich in der
Schule anfangs zum Unikum gemacht. Aber es war immerhin ein Glück für mich, daß
ich nicht aus dem Nachbarstaat Massachusetts kam, für dessen Einwohner manche
Leute hier überhaupt nichts übrig haben. Trotzdem wird es wohl mindestens zwei
Generationen brauchen, bis die Einheimischen meinen Vater und mich nicht mehr
als Zugereiste bezeichnen.
    Ich habe zwei Freunde in der Schule – die Wikingergöttin und Roger
Kelly. Wir drei sind mittags fast immer zusammen, haben auch einige gemeinsame
Unterrichtsstunden, und Roger und ich spielen in der Schulband. Aber
Verabredungen mit Jo und Roger nach der Schule oder für die Wochenenden sind
trotzdem schwierig; da muß alles vorher genau überlegt werden. Jos Mutter hat
von Anfang an kein Geheimnis daraus gemacht, daß ihr die lange Fahrt zu uns
hinauf nicht paßt, und ich glaube, mein Vater ist ihr verdächtig. Wenn Jo und
ich mal zusammen übernachten wollen, findet das immer bei Jo statt.
Übernachtungen mit Roger gibt es natürlich nicht, aber wir spielen manchmal
nach der Schule noch Basketball, und ich fahre dann mit dem späten Bus nach
Hause.
    Als ich noch in New York lebte, hatte ich mehr als zwei Freunde. In
meiner Grundschule gab es schon vier vierte Klassen, und bei uns im Ort gab es
drei Grundschulen. Ich habe oft bei Freundinnen übernachtet und sie genauso bei
mir. Ich bin ins Ballett gegangen und zur Gymnastik, und ich war bei den
Pfadfinderinnen. Ich hatte ein schönes Zimmer, ganz in Lavendelblau und Weiß
mit einem Himmelbett, und auf dem flauschigen Teppich hatten leicht sechs oder
sieben Mädchen in Schlafsäcken Platz. Wir haben uns immer zuerst im Wohnzimmer
Filme angesehen und sind dann um elf zu mir raufgegangen, länger durften wir
nicht aufbleiben. Oben sind wir trotzdem bis nach Mitternacht aufgeblieben,
haben uns die Fingernägel lackiert oder Spiele gespielt, Sag
die Wahrheit und so was, und dabei gelernt, uns halb totzulachen, ohne
meine Eltern zu wecken.
    Als Clara sechs Monate alt war, bekam sie ihr eigenes Zimmer, gleich
neben meinem. Meine Freundinnen wollten immer mit ihr spielen, wenn sie zu
Besuch kamen. Sie

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