Stille über dem Schnee
»Vielleicht heiÃt eine der Schwestern so.«
»Es hört sich an wie der Name von einem Hurrikan.«
»Wahrscheinlich haben sie ein System«, meint er.
»Glaubst du denn, daà so viele ausgesetzte Babys bei ihnen abgegeben
werden?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich hoffe es jedenfalls nicht.«
»Es ist ein altmodischer Name.« Ich sitze an meine Tür gelehnt. Mein
Vater hat die Hand auf dem Türgriff, als hätte er es eilig, aus dem Laster zu
kommen.
»Ja, es ist schon etwas seltsam, einem Kind heutzutage so einen
Namen zu geben«, räumt er ein.
»Was wird denn jetzt aus ihr?« frage ich. »Hat Dr. Gibson dir
das gesagt?«
»Das Jugendamt kümmert sich um sie«, antwortet mein Vater. Er drückt
den Griff herunter und öffnet die Tür einen Spalt.
»Kriegt sie jetzt ganz neue Eltern und Geschwister?«
»Höchstwahrscheinlich.«
»Ich finde das irgendwie nicht in Ordnung«, sage ich.
»Was findest du nicht in Ordnung?«
»Daà wir überhaupt nicht wissen sollen, wo sie ist.«
»Aber so muà es sein, Nicky.« Er macht die Tür ganz auf, das
Zeichen, daà das Gespräch beendet ist.
»Dad?«
»Ja?«
»Warum können wir sie nicht nehmen? Wir könnten sie holen und bei
uns behalten.«
Die Vorstellung ist erschreckend und grandios zugleich. Mir ist mit
meinen zwölf Jahren der Einfall gekommen, ein Kind durch das andere zu
ersetzen. Sobald ich die Worte ausgesprochen habe und das Gesicht meines Vaters
sehe, merke ich, was ich getan habe. Aber wie sich das für eine Zwölfjährige
gehört, werde ich zunächst mal vorwurfsvoll. »Warum denn nicht?« erkundige ich
mich im beleidigten Ton der Gekränkten und MiÃverstandenen. »Hast du nicht das
Gefühl gehabt, daà Clara vielleicht zu uns zurückgekommen ist? Daà wir sie zu
uns nehmen sollen?«
Mein Vater steigt aus dem Wagen. Er holt tief Luft. »Nein, Nicky,
das Gefühl habe ich nicht gehabt«, antwortet er. »Clara war Clara, und dieses
Kind ist ein anderer Mensch. Sie ist nicht für uns bestimmt.« Er schaut zur
Scheune hinüber und sieht dann wieder mich an. »Komm, hilf mir die Sachen ins
Haus tragen, bevor das Eis schmilzt.«
»Dad, es sind minus sechs Grad hier drauÃen«, sage ich. »Das Eis
läuft uns bestimmt nicht weg.«
Aber meine Worte treffen nur den Rücken meines Vaters. Er hat die
Tür zugeschlagen und die Tüte mit den Lebensmitteln aus dem Auto geholt. Ich
blicke ihm nach, wie er zum Haus geht, der Schmerz ein harter Stein in seiner
Brust.
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 IN DIESER NACHT GEFRIERT DER
SCHNEE von neuem, und es weht ein stürmischer Wind. Ich erwache vom Krachen der Ãste,
die unter der Last des vereisten Schnees brechen. Es hört sich an wie eine
Folge von Schüssen â manche gedämpft, andere laut und scharf wie das Knallen
von Feuerwerkskörpern. Der Lärm treibt mich bei Tagesanbruch aus dem Bett, und
ich warte am Fenster meines Zimmers auf das erste Licht. Im Wald jenseits der
gerodeten Fläche hängen kreuz und quer geknickte Bäume, deren Ãste zum Boden
hinabgedrückt sind wie nach einem Hurrikan.
DrauÃen
auf der Treppe höre ich meinen Vater. Ich ziehe Bademantel und Hausschuhe an
und treffe ihn in der Küche, wo er neben der Kaffeemaschine steht und darauf
wartet, daà die Kanne sich füllt. Auf Strümpfen steht er ans Spülbecken
gelehnt, die Arme über einem seiner vielen Flanellhemden verschränkt. Er hat
die Jeans an, in der er nun schon eine Woche herumläuft, und seinen Bart,
stelle ich fest, kann man längst nicht mehr als Stoppelbart bezeichnen.
»Dad«, sage ich, »vielleicht solltest du dich mal rasieren.«
»Ich wollte mir eigentlich einen Bart wachsen lassen.« Er reibt sich
das Kinn.
»Vielleicht solltest du dich besser rasieren.«
Aus der Kaffeemaschine quillt ein Kaffeerinnsal.
»Haben dich die Bäume wach gehalten?« fragt er.
»Sie haben mich geweckt.«
»Da wirdâs im Frühling viel zu tun geben.« Er beugt sich ein wenig
vor, um aus dem Fenster zu schauen. »Mir macht das Dach Sorgen, bei diesem
schweren Schnee und dem Eis. Es fällt vorn nicht steil genug ab. Ich hätte es
im Herbst richten sollen. Ich hasse Dacharbeiten.«
»Warum?«
»Ich habe Höhenangst. Mir wird schwindlig.«
Das ist etwas, was ich bisher nicht
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