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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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versuchten, ihr Zöpfe zu flechten, aber sie hatte natürlich
nicht mal für einen anständigen Zopf genug Haare. Ihr
Zimmer war gelb, orange und blau, hauptsächlich weil ich eine Wand mit gelben,
orangefarbenen und blauen Fischen in den verschiedensten Formen und Größen
bemalt hatte; Exemplare, wie man sie im Leben nie zu sehen kriegt, nicht mal in
der Karibik. Später, in New Hampshire, habe ich manchmal darüber nachgedacht,
was wohl die neuen Eigentümer des Hauses mit diesem Zimmer gemacht haben; ob
sie die gelben, orangefarbenen und blauen Fische weiter durchs Wasser schwimmen
lassen oder ob sie die Wand weiß getüncht und mein Kunstwerk ausgelöscht haben – wie unsere Familie ausgelöscht wurde.
    In der ersten Zeit in Shepherd war meine Seele wund und empfindlich,
und ich mußte häufig ohne äußeren Anlaß weinen, was sich in einem
Ein-Zimmer-Schulhaus nicht leicht vertuschen ließ. Als Ausgleich zu meinem
Mangel an Selbstbeherrschung tat ich hochmütig und blasiert, als wäre ich, die
New Yorkerin, meinen Altersgenossen so weit voraus, daß ich es kaum nötig
hatte, beim Unterricht aufzupassen. Diese Illusion wurde mir Stück für Stück
genommen, und erst im Mai hatte ich endlich in Mathe alles aufgeholt.
    In dem Wald auf unserem Stück Land sind Dutzende Himbeersträucher,
die mein Vater und ich eines Tages im Juli unseres ersten Sommers in New
Hampshire entdeckt haben. Wir pflückten die Beeren, nahmen sie mit nach Hause
und aßen sie eine Zeitlang zu allem (zu Cornflakes, zu Eis, sogar zum Steak).
Da wir mehr Himbeeren hatten, als er und ich essen konnten, beschloß ich, am
Ende unserer Straße einen Verkaufsstand zu errichten. Mein Vater riet mir,
Sweetser zu fragen, wo ich ein paar Dutzend kleine Obstkörbe herbekommen könne.
Sweetser, der offenbar so ziemlich alles beschaffen konnte, was gerade
gebraucht wurde, verkaufte mir mehrere Stapel für fünf Dollar. Er verzichtete
auf Barzahlung und gab mir einen Kredit, den ich voller Stolz am Ende der
ersten Woche zurückzahlte.
    Jeden
Morgen pflückte ich, in Jeansshorts und pastellfarbenen T -Shirts, im Wald die Himbeeren und sammelte sie in einem Korb
über meiner Schulter. Wenn ich genug Beeren hatte, fuhr ich auf dem Rad unsere
Schotterstraße hinunter bis zur Einmündung in die Hauptstraße. Dort hatte ich
einen Klapptisch und einen Gartenstuhl aus Plastik aufgestellt. Ich füllte die
Körbchen mit den Himbeeren, dann setzte ich mich hin und wartete. Mit
mindestens vier Kunden pro Tag konnte ich fest rechnen: Das war erstens eine
Frau, deren Namen ich nie erfahren habe, die aber offenbar immer eine Menge
Gäste hatte; dann Mrs. Clapper, eine ambulante Krankenschwester, die jeden
Tag einem ihrer Patienten ein Körbchen mitbrachte; Mr. Bolduc, der jeden
Morgen vorbeikam, wenn er in den Ort fuhr, um sich die Zeitung und seine Post
zu holen; und Mr. Sweetser, der meines Wissens überhaupt keinen Grund
hatte, an unserer Straße vorbeizufahren, aber regelmäßig kam (ich glaube, er
hat nicht einen Tag ausgelassen). Außerdem hatte ich meist noch vier oder fünf
weitere Kunden, die wahrscheinlich so verblüfft waren, an dieser
gottverlassenen Straßenecke ein Mädchen sitzen zu sehen, das Himbeeren verkaufte,
daß sie sich moralisch verpflichtet fühlten anzuhalten. Insgesamt arbeitete ich
ungefähr sechs Stunden pro Tag – eine Stunde lang pflückte ich, zwanzig Minuten
brauchte ich jeweils für den Weg, und drei bis vier Stunden saß ich am Stand.
Ich verkaufte die Beeren für fünfundsiebzig Cent pro Körbchen, und wenn ich
Glück hatte, verdiente ich sechs Dollar am Tag. Sechs Tage am Stand (an
Regentagen unter einem provisorisch befestigten Schirm) brachten
sechsunddreißig Dollar, ein kleines Vermögen, wie mir damals mit meinen zehn beziehungsweise
elf Jahren schien. Manchmal las ich, wenn ich auf meinem Stuhl saß, aber
meistens starrte ich ins Leere und bemerkte höchstens, wie zwei
Chrysipposfalter sich bei der Paarung ineinanderschmiegten oder daß die wilden
Möhren praktisch über Nacht aus dem Boden geschossen waren. In dem Sommer
lernte ich, mit offenen Augen zu träumen, und damals setzte sich auch die
Vorstellung von einer Clara in mir fest, die immer noch weiterwuchs. Sie wäre
in jenem ersten Sommer fast zwei Jahre alt gewesen und wahrscheinlich eine
schreckliche

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