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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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weiß, daß sie heute noch verwelken, aber ich bin innerlich zufrieden.
    Ich denke an meine Mutter und Clara. Ich schließe die Augen und
stelle sie mir in aller Lebendigkeit vor. Ich tue das regelmäßig, um die
Klarheit und die Schärfe der Bilder zu bewahren. Diese Bilder in meinem Kopf
besitzen Wärme, Geruch und Bewegung, es sind Schätze, die zu verlieren ich mir
nicht leisten kann.
    Am letzten Tag vor den Ferien veranstalten wir in unserem
Klassenzimmer eine Weihnachtsfeier. In New York haben wir immer Weihnachten und
Hanukkah zusammen gefeiert, aber hier, in New Hampshire, ist es nur eine
gewöhnliche Weihnachtsfeier, weil es an unserer Schule niemanden gibt, für den
Hanukkah wichtig ist. Geschenke werden ausgetauscht, und die Jungens sind wie
die Verrückten, weil es nur noch ein halber Tag ist. Ich habe Molly Currans
Namen gezogen und ihr – meiner Gewohnheit entsprechend, stets Geschenke zu
machen, die ich am liebsten selbst behalten würde – ein Maniküreset mit
Nagellack in zwanzig verschiedenen Farben geschenkt. Ich habe von Billy Brock,
der offensichtlich nach dem gleichen Prinzip schenkt, eine Police-Kassette
bekommen; leider kennt er mich nicht gut genug, um zu wissen, daß ich keinen
Kassettenrecorder habe. Auf der Heimfahrt im Bus überlege ich, ob ich mir von
meinem Vater statt der Waschmaschine lieber einen Kassettenrecorder zu
Weihnachten wünschen soll. Ist es zu spät, frage ich mich, mir beides zu
wünschen?
    Ich
hänge meine Jacke auf und gehe zu meinem Vater in die Werkstatt. Er ist ganz
auf die Vorbereitungen zum Verleimen einer Schublade konzentriert, eine
Prozedur, bei der man innerhalb von fünfzehn Minuten die sorgfältige Arbeit von
Wochen zunichte machen kann, wenn man nicht absolut präzise vorgeht. Man muß
den Leim auftragen, die Teile zusammenfügen, dabei mit einer Schraubzwinge den
größtmöglichen Druck ausüben, den Winkel prüfen, dann den Überschuß an Leim
entfernen – das alles in ungefähr anderthalb Minuten. Die Schublade, an der
mein Vater gerade arbeitet, die erste von zweien, muß genau in die Öffnung
eines kleinen Sideboards passen. Es ist seine erste Auftragsarbeit, und er muß
sie vor Weihnachten fertig haben.
    Â»Wie war’s in der Schule?« fragt er.
    Â»Gut«, antworte ich.
    Â»Der letzte Tag.«
    Â»Ja.«
    Â»Wie war die Weihnachtsfeier?«
    Â»Gut.«
    Â»Was hast du bekommen?«
    Â»Eine Kassette mit Police.«
    Ich sehe ihm in die Augen und hoffe, er denkt jetzt, Kassettenrecorder: gutes Weihnachtsgeschenk für Nicky .
    Genau eine Woche und zwei Tage ist es her, daß mein Vater und ich in
den Wald gegangen sind und ein neugeborenes Kind gefunden haben. Ich kann nicht
aufhören, darüber nachzudenken, was aus Baby Doris geworden wäre, wenn wir sie
nicht gefunden hätten. Immer stelle ich mir den Schlafsack als einen
steifgefrorenen Kokon vor und sehe lange Eiszapfen, die wie Dolche herabfallen.
Bei einem zweiten Telefongespräch mit Dr. Gibson hat mein Vater erfahren,
daß die Zehen des kleinen Mädchens doch nicht amputiert werden mußten. »Die
Kleine ist eine Kämpfernatur«, sagte der Arzt zu meinem Vater, und ich war
stolz, als ich das hörte. Wir erfuhren außerdem, daß sie heute vom Sozialdienst
abgeholt und fürs erste in ein Heim gebracht wird. Ich war sehr bestürzt, als
ich das hörte; im Krankenhaus hatte ich mir die Kleine gut aufgehoben
vorgestellt. Wir erfahren nicht, wohin sie gebracht wird. Dieses ganze
Verfahren mit der Anonymität und den neuen Bezugspersonen – neue Mutter, neuer
Vater, neue Geschwister – hat große Ähnlichkeit mit dem Zeugenschutzprogramm,
finde ich. Nicht mal den neuen Namen der Kleinen werden wir erfahren. Für uns
wird sie auf immer Baby Doris bleiben müssen.
    Ich überlasse meinen Vater seiner Arbeit und gehe wieder ins Haus
hinüber, in die Küche, um mir einen Kakao zu machen. Ich schiebe ein Toastie in
den Toaströster und sehe meine Mutter, wie sie in einer kleinen Schüssel
Hüttenkäse und Erdnußbutter verrührt. Am Tag zuvor kam mir eine Erinnerung an
meine Mutter, wie sie einmal mit durchgedrückten Knien vornübergebeugt im
Garten stand, die Beine braungebrannt, die Shorts an den Oberschenkeln
hochgerutscht. Mein Vater saß auf dem Rasenmäher und ratterte auf die Schaukel
zu. Er starrte meine Mutter so

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