Stille über dem Schnee
fügt sie
in leichtem Ton hinzu.
Ich beiÃe mir auf die Lippe. Ich will nur weg.
»Kaum was los heute«, sagt Marion. »Aber gestern, das hättest du
sehen sollen! Die haben mir fast den Laden gestürmt. Alle wollten sie Milch und
Konserven. Vorräte anlegen. Es soll ja ein Riesenschneesturm kommen. Der
schlimmste der Saison, heiÃt es, aber die irren sich ja immer.«
Ich lege das Geld auf den Tresen.
»Hast du das Baby seit dem Abend noch mal gesehen?« erkundigt sich
Marion, während sie das Wechselgeld abzählt.
»Nein.«
Marion hebt hastig den Kopf, hinter mir ertönt eine Stimme. »Nicky,
richtig?«
Ein Mann im blauen Wintermantel mit rotem Wollschal schiebt sich
neben mich. Ich habe die Ladenglocke gar nicht bimmeln hören. Aber vielleicht
hat sie ja gar nicht gebimmelt; vielleicht war er schon im Laden, in einem
anderen Gang.
»Wie geht es dir?« fragt Warren.
»Gut«, murmle ich mit starren Lippen.
Marion schiebt die Packung Kotex in eine Tüte, aber Warren hat
meinen Einkauf sicher schon bemerkt. Unter dem Parka bricht mir der SchweiÃ
aus. Ich stehe da, als wäre ich eigentlich gar nicht da â mit leicht gesenktem
Kopf und gekrümmtem Rücken.
Warren legt seine Zeitschriften und ein Päckchen Kaugummi auf den
Tresen.
»Ich gehe jetzt«, sage ich.
»Eine Schachtel Camel«, sagt Warren.
»Schöne Weihnachten«, ruft Marion mir zu. »Und sag deinem Vater, daÃ
er für mich auch ein Held ist.«
»Ja, dir und deinem Vater schöne Feiertage«, stimmt Warren ein.
Ich gehe so schnell, wie ich es wage, zur Tür. Ich kann nur daran
denken, was geschehen wird, wenn mein Vater den Kriminalbeamten entdeckt.
Die Glocke bimmelt, als ich die Tür öffne. Auf der obersten Stufe
rutsche ich aus und holpere den Rest der Treppe auf dem Hintern hinunter. Unten
rapple ich mich hoch und laufe zum Laster.
Ich knalle die Tür zu und werfe meinen Kopf nach rückwärts gegen den
Sitz. In der Tüte ist Schnee. »Schnell, fahr los«, sage ich. »Ich muà dringend
pinkeln.«
Â
 DIE FAHRT ZURÃCK ZUM HAUS ist
lang und anstrengend. Manchmal hat mein Vater Mühe, die StraÃe zu finden. Immer
wieder spüre ich das Wedeln der Hinterreifen, die ins Rutschen geraten oder aus
einer Furche springen. Wir begegnen nur zwei anderen Fahrzeugen auf den StraÃen â es hat offenbar kaum jemand Lust, sich bei dem Sturm hinauszuwagen.
Wir
kommen an dem kleinen weiÃen Haus vorbei, auf dessen Veranda immer die vielen
Jungenspielsachen stehen. Ich reibe die Scheibe blank und versuche, in das Haus
hineinzusehen. In den Fenstern stehen Kerzen. Ich kann einen brennenden Baum in
einem Wohnzimmer ausmachen. Die Mutter ist in der Küche an der Arbeitsplatte.
Sie hat die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Fetzen von Erinnerungen an Weihnachten
ziehen an mir vorüber:
Sie hängt das Christkind aus Wachs an den Baum.
Das Band um das Päckchen ist knallrot, durch
einen schnellen Zug mit der Schere geringelt.
Er kniet vor dem Baum, den Kopf unter den Ãsten,
und sucht nach der Steckdose.
Ich denke an Weihnachtsbäume und Christbaumschmuck, als es mich
plötzlich durchzuckt: Habe ich wirklich zu Marion gesagt, die Kotex seien nicht
für mich? Hat der Kriminalbeamte, der irgendwo zwischen den Regalen gelauert
hat, das gehört?
Dumm, dumm, dumm.
Mein Vater parkt an seinem Stammplatz, die Stelle ist vom Haus aus
nicht zu sehen. Ich mustere das blaue Auto, als ich die Wagentür öffne, und
laufe zum Haus. Sie sitzt auf der Bank im hinteren Flur. Sie hat ihre weiÃe
Bluse an und die Hose meines Flanellpyjamas. Sie paÃt kaum hinein â an den
Oberschenkeln spannt der Stoff mit den rosaroten und himmelblauen Tieren, und
die Aufschläge sind kurz unterhalb der Knie. Ihre Beine sind weià über dem
grauen Angora der Socken. Ihre Jeans, die sie gewaschen hat, hängt zum Trocknen
an einem Haken.
Sie wirkt zaghaft und gedämpft wie eine Schülerin, die vor dem
Rektorzimmer wartet. Ich gebe ihr die Papiertüte. Sie bedankt sich und
verschwindet im Badezimmer. Ich ziehe meine Jacke aus und hänge sie an einen
Haken nicht weit von dem, an dem die Jeans trocknet.
Hinter der Badezimmertür wird Pappe zerrissen, Papier raschelt.
Die Frau hat ein Kind geboren. Wie ist das? würde ich sie am
liebsten fragen. Ich weiÃ, woher die kleinen Kinder kommen, aber das verrät
Weitere Kostenlose Bücher