Stille über dem Schnee
führen oder sterben schockiert
waren. Aber das war vor vielen Jahren, und heute ist Marion eine Stütze der
Gemeinde. Ihr Mann Jimmy, der einmal der Starspieler beim Footballteam der
regionalen High-School war, bringt fast drei Zentner auf die Waage. Einer von Marions
Söhnen ist an der Universität von New Hampshire; der andere sitzt wegen
bewaffneten Raubüberfalls im staatlichen Gefängnis.
Ich habe Marion selten ohne ihr Strickzeug gesehen. Heute arbeitet
sie an irgend etwas mit roten und gelben Streifen. Ich hoffe, es ist nicht für
jemanden, der älter als zwei ist.
»Also, erzähl mal«, sagt sie.
»Hm.« Ich überlege.
»Irgendwas, was noch nicht in der Zeitung gestanden hat.«
Ich überlege noch einen Moment. »Wir haben sie in Flanellhemden
gepackt und in einen Wäschekorb aus Plastik gelegt.«
»Ehrlich?« sagt Marion, offenbar hocherfreut über diese Einzelheit.
»Du warst doch bestimmt völlig aufgelöst, oder?«
»So ziemlich, ja«, antworte ich.
Marion nimmt ihr Strickzeug wieder zur Hand. »Warst du auch mit im
Krankenhaus?«
»Ja.«
»Habt ihr bei der Kleinen bleiben dürfen?«
»Wir haben sie nur kurz besucht.«
»Was wird jetzt aus ihr?«
»Das wissen wir auch nicht«, sage ich.
Marions schwammiges Lächeln trübt sich. »Es ist wirklich traurig«,
sagt sie.
»Na ja, immerhin haben wir sie gefunden«, entgegne ich, nicht
bereit, die Rolle der Heldin aufzugeben.
»Nein, ich meine traurig für denjenigen, der das getan hat«, erklärt
sie. »Das muà doch einen ganz schlimmen Grund gehabt haben.«
Ich denke daran, daà derjenige, der das getan hat, in diesem
Augenblick bei uns zu Hause im Badezimmer ist.
»Bist du mit der Mütze für deinen Dad fertig?«
»Ja.« Ich schiebe mich näher an die Verkaufsregale.
»Wie ist sie geworden?«
»Ganz gut«, sage ich. »Ich glaube, sie wird ihm passen.«
»Hat dir der gerollte Rand am Ende doch gefallen, oder?«
»Ja.«
Meine Mutter hat mir das Stricken beigebracht, als ich sieben war.
Ich habe es dann ganz vergessen, bis ich eines Tages Marion mit ihren Nadeln
hinter der Kasse sitzen sah und beichtete, daà ich auch stricken könne.
Beichten ist das richtige Wort. Damals, Anfang der achtziger Jahre, gehörte
Stricken nicht zu den Hobbys, zu denen ein junges Mädchen zwischen zehn und
zwölf sich mit Stolz bekannte. Aber Marion war hellauf begeistert und wollte
unbedingt etwas sehen, was ich selbst gestrickt hatte. Ich zeigte ihr einen
ungeratenen Schal, den sie über die MaÃen lobte. Sie lieh mir himbeerrote Wolle
für ein weiteres Unternehmen, eine Mütze für mich selbst. Seitdem stricke ich
ziemlich regelmäÃig. Hat man die Nadeln einmal zur Hand genommen, kann man sie
so leicht nicht wieder weglegen. Stricken ist sehr beruhigend, und ich fühle
mich dabei wenigstens ein paar Minuten lang meiner Mutter näher. Wenn ich mit
einer Strickart oder einem Muster nicht zurechtkomme, gehe ich hinunter zum
Laden, und Marion zeigt mir, wie es geht. Sonst bin ich, wenn ich Marion
stricken sehe, immer fasziniert davon, wie aus einem Knäuel Wolle ein Pullover
oder eine Babydecke wird, aber heute will ich nur so schnell wie möglich von
der Kasse weg. Ich denke an meinen Vater, der drauÃen im Auto wartet, und an
den Schnee, der bestimmt schon die ganze Windschutzscheibe bedeckt.
Ich weiÃ, wo die Artikel für die weibliche Hygiene liegen, und
pirsche mich in dieser Richtung davon. Die Packung Kotex ist gröÃer, als ich
sie mir vorgestellt habe. Ich nehme sie vom Regal und kehre zur Kasse zurück.
Marion legt ihr Strickzeug auf dem Schoà ab. »Oh, oh«, sagt sie mit
einem Blick auf die Kotex.
Töricht und unüberlegt versichere ich hastig: »Die sind nicht für
mich.«
Marion kippt den Kopf zur Seite und sieht mich mit einem
mütterlichen Lächeln an. Es liegt auf der Hand, daà sie mir nicht glaubt.
Ich ziehe den Zehn-Dollar-Schein aus der Tasche. Die Packung Kotex
auf dem zerschrammten Resopal scheint zu vibrieren. Marion tippt den Preis ein.
»Gehtâs dir gut?« fragt sie.
»Prima«, versichere ich.
»Hör mal, wenn du irgendwelche Fragen hast, ganz gleich, um was es
geht, kannst du immer zu mir kommen.«
Ich nicke. Mir brennt das Gesicht.
»Ich meine, wo du doch deine Mutter nicht fragen kannst«,
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