Stille über dem Schnee
er.
»Ich habe es in der Zeitung gelesen«, antwortet sie. »Ihr Name war
angegeben. Es war nicht schwer herauszubekommen, wo Sie wohnen.«
DrauÃen vor den Fenstern fällt der Schnee in dicken Flocken. »Waren
Sie beim Arzt?« fragt er.
Sie blickt auf.
»Während der Schwangerschaft«, fügt er hinzu.
»Nein.«
»Sie waren nie beim Arzt?«
»Nein«, sagt sie ein zweites Mal.
»Das war sehr leichtsinnig«, sagt mein Vater.
Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber er hebt abwehrend die
Hand. »Ich will es nicht wissen«, sagt er und steht auf. »Nicky, du muÃt
anfangen zu schippen.«
»Jetzt gleich?« frage ich.
»Ja, jetzt gleich. Ich muà rüber in die Scheune und die Kommode
fertig machen.«
»Aber â¦Â«
»Nichts aber. Wenn wir mit dem Schippen nicht dranbleiben, kommen
wir hier nie mehr raus.«
Sehr widerwillig stehe ich auf und werfe der Frau einen Abschied
nehmenden Blick zu. Sie schaut nicht zu mir hinauf. Ich trotte in den hinteren
Korridor, setze mich auf die Bank und ziehe meine Stiefel an. Und wenn sie mich
gerade jetzt braucht? Ich schlüpfe in meine Jacke, setze die Mütze auf und
ziehe die Fäustlinge über. Darf man sie überhaupt allein lassen? Ich gehe
hinaus, den Kopf gegen den Sturm gesenkt. Was ist, wenn was mit ihr los ist,
und ich bin nicht da?
Ich nehme eine breite Schaufel und schiebe sie vor mir her wie einen
Pflug. Von allen Pflichten, die ich zu Hause habe, ist mir das Schneeschippen
die verhaÃteste, ganz besonders wenn es so schneit wie jetzt und ich genau
weiÃ, daà ich in spätestens zwei Stunden wieder von vorn anfangen muÃ. Ich
ziehe eine breite Spur nach der anderen, indem ich den Schnee bis zum äuÃeren
Rand am Ende der Einfahrt schiebe. Ich bin ungeduldig. Ich erledige das in
Rekordzeit. Nach zwanzig Minuten betrachte ich mein Werk. Ich habe schlampig
gearbeitet, aber ich halte es keine Minute länger drauÃen aus. Ich lehne die
Schippe neben die Hintertür, gehe ins Haus und ziehe rasch Jacke und Stiefel
aus. Ich gehe ins Wohnzimmer.
Die Frau sitzt immer noch mit dem Tablett auf dem Schoà auf der
Couch. Sie hat die Sternchen übriggelassen, sie schwimmen jetzt in einer
fettigen goldenen Pfütze auf dem Grund der Schale. Ich esse die Sternchen immer
zuerst. Sie beugt sich vor, um das Tablett abzustellen, aber ich nehme es ihr
vorher ab. Clara Barton.
Florence Nightingale.
Sie legt sich wieder hin. Das Licht der Lampe fällt auf ihr Haar und
ihr Gesicht. Ich setze mich wie vorher neben ihr auf den Boden und lege meinen
Arm gegen die Paspelierung der Polster.
»Wie heiÃen Sie?« frage ich.
»Dein Vater will nichts von mir wissen«, antwortet sie. »Du solltest
gar nicht hier bei mir im Zimmer sein.«
»Ich sage ihm nichts«, erwidere ich.
Sie schweigt.
»Irgendwie müssen wir Sie doch nennen«, insistiere ich.
Die Frau überlegt eine Minute. Zwei Minuten. »Du kannst mich
Charlotte nennen«, sagt sie schlieÃlich.
»Charlotte?«
Sie nickt.
Charlotte , wiederhole ich lautlos. Ich
kenne sonst keine Charlotte, habe nie eine Charlotte gekannt. »Das ist ein
schöner Name«, sage ich. »Ist es Ihr richtiger Name?«
»Ja.«
Auf einmal möchte ich so viel wissen. Wie alt sie ist. Woher sie
kommt. Wer der Mann ist. Ob sie ihn sehr geliebt hat.
»Dem Baby geht es gut«, sage ich.
Sie schluchzt auf â einmal, dann noch einmal. Ihre Augen ziehen sich
zusammen, Rotz rinnt ihr zur Oberlippe hinunter. Sie ist keine, die vornehm
verhalten weint. Sie wischt sich die Nase mit einem pinkfarbenen Ãrmel. Ich
laufe ins Bad und komme mit einer Handvoll Toilettenpapier zurück.
»Tut mir leid. Ich hätte nichts sagen sollen.«
Sie tut meine Entschuldigung mit einer wegwerfenden Handbewegung ab.
»Erzählen Sie mir, wie es war«, bitte ich sie.
»Ich kann nicht.« Sie schneuzt sich. »Jedenfalls jetzt nicht.«
Aber das Jetzt ist alles, nicht wahr? Jetzt heiÃt, daà es eine Zukunft gibt, eine Zeit, da sie
sich mir anvertrauen und ihre Geschichte erzählen wird â wenn ich nur warten
kann, wenn ich nur Geduld habe. Ich bin berauscht von der VerheiÃung des Worts.
»Ich glaube, ich muà wirklich schlafen«, sagt sie und putzt sich
noch einmal gründlich die Nase.
»Wir haben ein Gästezimmer«, sage ich. »Für meine GroÃmutter.
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