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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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nach endlosen Sekunden, wie mir scheint, kommt der Wagen zum Stillstand.
Mein Vater legt den Gang ein und lenkt den Laster auf unsere Spur zurück. Ich
bete darum, daß wir nicht irgendwo anfahren, denn das wäre dann meine Schuld.
    Weiter vorn kann ich schon Remy’s sehen und die Eisenwarenhandlung,
aber mein Vater biegt plötzlich zum Postamt ab. Ich vermute, er will nachsehen,
ob er Post hat. Aber anstatt anzuhalten, fährt er weiter zum nächsten Gebäude,
in dem die Polizeidienststelle und die Gemeindeverwaltung untergebracht sind.
    Â»Was tust du da?« frage ich mit aufgerissenen Augen.
    Mein Vater antwortet nicht. Er stellt den Laster ab, schaltet den
Motor aus und drückt seine Tür auf.
    Â»Dad?«
    Er geht auf die Polizeidienststelle zu. Ich stoße meine Tür auf und
springe aus dem Wagen. Hat er von Anfang an vorgehabt hierherzukommen? Hat er
der Fahrt zu Remy’s nur zugestimmt, um mich aus dem Haus zu haben, wenn die
Polizei die Mutter des ausgesetzten Kindes verhaftet? Würde mein Vater so etwas
tun? Ich bin mir nicht sicher. Manchmal glaube ich, meinen Vater gut zu kennen;
dann wieder frage ich mich, ob ich ihn überhaupt kenne.
    Â»Dad!« schreie ich, ihm nachlaufend.
    Mein Vater bleibt an der Tür stehen und wartet auf mich. Er beugt
sich zu mir hinunter. Ganz ruhig, in einem Ton, von dem ich weiß, daß er keinen
Widerspruch duldet, sagt er: »Geh zum Wagen zurück.«
    Â»Aber was tust du?«
    Â»Das hat mit dir nichts zu tun.«
    Â»Aber du darfst nicht …« Ich breite die Arme aus. »Du darfst
das nicht.« Schon fühle ich mich einer Frau gegenüber, die ich gar nicht kenne,
zur Loyalität verpflichtet. Heftig schüttle ich den Kopf.
    Mein Vater bekommt die Tür in den Rücken und springt zur Seite,
damit sie ganz geöffnet werden kann. Peggy, die Frau von der
Gemeindeverwaltung, zieht sich einen Schal über den Kopf und kommt heraus.
»Hallo, Nicky«, sagt sie.
    Ich habe Peggy kennengelernt, als ich den Antrag gestellt habe, an
der Einmündung zu unserer Straße Himbeeren verkaufen zu dürfen. Sie hat mir
sieben Dollar für die Genehmigung berechnet.
    Peggy sieht meinen Vater lächelnd an. »Brauchen Sie mich?« fragt
sie.
    Â»Eigentlich suche ich Chief Boyd«, erklärt mein Vater.
    Â»Den haben Sie gerade verpaßt«, sagt sie. »Er und Paul mußten raus
auf die Neunundachtzig. Ein Unfall an der Ausfahrt.« Peggy schaut zum Himmel
hinauf. »Ist es dringend? Ich könnte ihn anfunken.«
    Ich fixiere meinen Vater mit starrem Blick.
    Â»Nein«, antwortet er nach ein paar Sekunden. »Nein, ist schon in
Ordnung. Ich rufe ihn später an.«
    Ich atme auf.
    Â»Na, Sie haben ja wirklich Schlagzeilen gemacht.« Peggy zieht ihre
Handschuhe über. »Das muß unglaublich gewesen sein«, sagt sie. »Ein Baby zu
finden!« Sie sieht mich an. »Und du warst auch dabei!«
    Ich nicke.
    Â»Ich muß jetzt zu Sweetser«, sagt Peggy. »Ich muß noch Batterien und
Straßensalz besorgen, bevor der Sturm schlimmer wird. Wollen Sie drinnen
warten? Ich schließe nicht ab.«
    Â»Nein, ist schon in Ordnung so«, antwortet mein Vater. »Danke.«
    Â»Für den Fall, daß ich Sie vorher nicht mehr sehe, fröhliche
Weihnachten«, sagt Peggy.
    Mein Vater und ich gehen zum Wagen. Ich steige ein. Ich weiß, daß
ich jetzt keine Frage stellen darf, daß ich am besten überhaupt kein Wort
verliere.
    Vor Remy’s hält mein Vater an. Durch das Schneetreiben und das
beschlagene Fenster erkenne ich das blaßgelbe Licht einer Lampe über der Kasse.
Mein Vater gibt mir einen Zehn-Dollar-Schein. »Mach schnell«, sagt er.
    Die
Stufen sind schlecht geschippt. Als ich den Laden betrete, bimmelt ein
Glöckchen, um überflüssigerweise mein Erscheinen anzukündigen. Marion legt ihr
Strickzeug nieder. »Nicky«, sagt sie. »Kleines. Du bist meine Heldin, weißt du
das? Ich habe dich gar nicht mehr gesehen, seit ihr das Baby gefunden habt.
Deinen Vater auch nicht.«
    Â»Wir hatten ziemlich viel zu tun«, sage ich.
    Â»Na, das kann ich mir denken!«
    Marion, eine üppige Person mit roten Haaren und schwammigem Gesicht,
heiratete den Mann ihrer Schwester nach einer Affäre von biblischen Ausmaßen,
über die selbst die eifrigsten Befürworter von New Hampshires höchst unrealistischem
Motto Ein freies Leben

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