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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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mir
nichts über das, was ich unbedingt wissen möchte. Tut es weh? Hat sie Angst
gehabt? Liebt sie den Mann, der der Vater des Kindes ist? Wartet er versteckt
irgendwo an der Straße auf ihre Rückkehr? Ist das Kind, dem man den
lächerlichen Namen Baby Doris gegeben hat, das Produkt einer großen
Leidenschaft? Weint die Frau hinter der Badezimmertür um ihren Geliebten und um
ihr verlorenes Kind?
    Die Frau, die schließlich aus dem Bad kommt, sieht eher mitgenommen
als leidenschaftlich aus. Einen Moment stehen wir im hinteren Flur, und ich
weiß nicht recht, was ich mit ihr anfangen soll.
    Â»Danke«, sagt sie wieder. »War es sehr schlimm draußen?«
    Â»Geht schon.«
    Mein Vater bringt einen Schwall kalter Luft mit, als er sich den
Schnee von den Stiefeln stampft. Er zieht seinen Parka aus und hängt ihn auf.
»Sie sollten sich hinlegen«, sagt er zu der Frau.
    Ich führe sie an der Küche vorbei ins Wohnzimmer. Ich deute auf die
Couch. Sie fällt wie eine Gliederpuppe darauf nieder. Ihr Bauch wölbt sich
leicht über dem Gummizug der Schlafanzughose, man sieht es dort, wo die weiße
Bluse an der Taille auseinanderklafft. Die Bluse ist nicht sauber; an den
Innenrändern der Manschetten hat sie schmuddelige Ringe, die wie Stickerei
aussehen. Die Frau liegt mit geschlossenen Augen, und ich mustere sie prüfend,
diese Trophäe.
    Ihre Lippen sind spröde, und sie ist zu meiner Enttäuschung nicht
geschminkt. Aber ihre Augenbrauen sind sorgfältig gezupft, was darauf schließen
läßt, daß sie vorher sehr wohl auf gepflegtes Aussehen Wert gelegt hat. Sie hat
dichte blonde Wimpern. An der Nase hat sie Mitesser und an den Wangen ein, zwei
schwache Vertiefungen. Die Haare fallen ihr ins Gesicht, und wahrscheinlich
schläft sie schon, da sie das nicht stört. Sie hat einen großen Busen, der zum
Sofapolster gerutscht ist.
    Ich warte, wie man das vielleicht am Bett einer Mutter tut, darauf,
daß sie erwacht oder die Augen öffnet. Aus der Küche höre ich das Kreischen
eines elektrischen Dosenöffners, das Geräusch eines Topfs, der über eine
Kochplatte schabt. Ich breite eine häßliche schwarz-rote Häkeldecke über ihr
aus. Meine Großmutter hat sie gemacht, und mein Vater will sie absolut nicht
wegwerfen. Ich schüttle die Kissen hinter ihrem Kopf auf und hoffe, daß sie
davon aufwacht. Und es wirkt.
    Sie fährt in die Höhe, wieder ist es, als wüßte sie nicht, wo sie
ist – Dornröschen, das hundert Jahre geschlafen hat.
    Â»Ich habe ihn verlassen«, sagt sie.
    Ich recke mich. Ihn verlassen? Den Mann?
Den, der das Baby in den Schnee hinausgetragen hat?
    Sie fröstelt.
    Â»Sie frieren«, sage ich. »Warten Sie, ich hole Ihnen eine Jacke.«
    Â»Meine ist im Bad.«
    Sofort springe ich auf, ganz begierig, mich nützlich zu machen. Die
pinkfarbene Strickjacke liegt gefaltet auf einer Ecke des Waschbeckens. Sie ist
aus flauschiger Wolle – nicht Angora, sondern Mohair – und hat vorn große
Perlmuttknöpfe.
    Die Frau richtet sich wieder auf, als ich ins Zimmer zurückkomme.
Ich lege ihr die Strickjacke um die Schultern und versuche, sie ihr anzuziehen.
Die Frau scheint ihre Arme nicht mehr gebrauchen zu können, und ihr Körper ist
schwer.
    Ich setze mich neben ihr auf den Boden. Die Bücherregale im Zimmer
ragen über uns in die Höhe. Neben der Couch gibt es nur noch zwei Lampen, einen
Couchtisch, den ledernen Klubsessel, den mein Vater aus unserem New Yorker Haus
mitgenommen hat, und einen zweiten Sessel.
    Mein Vater kommt mit einem Tablett herein: Sternchensuppe in einer
tiefen Schale, ein kleiner Teller mit Salzkräckern, ein Glas Wasser. »Sie haben
viel zuwenig getrunken«, erklärt er, während er sie prüfend betrachtet.
    Sie richtet sich mühsam zum Sitzen auf. Ihre Hand, die den Löffel
ergreift, zittert.
    Â»Sobald der Sturm vorüber ist …«, sagt er mit einer Geste zum
Fenster.
    Sobald der Sturm vorüber ist, was? Das möchte ich sehen. Will er die
Frau zum Laster schleppen? Will er sie zwingen, in ihrem blauen Auto eine
ungepflügte Straße hinunterzufahren?
    Mein Vater setzt sich und nimmt die für ihn typische Haltung ein:
gesenkter Kopf, gespreizte Beine, Ellbogen auf den Knien. Es wird dunkler im
Zimmer, und er beugt sich hinüber, um die Lampe anzuknipsen. »Wie haben Sie
mich gefunden?« fragt

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