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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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gemein«, sage ich.
    Â»Das ist ein Fiasko«, entgegnet er.
    Als ich ins Wohnzimmer zurückkomme, hat Charlotte noch immer die
Augen geschlossen. Es sieht aus, als wäre sie eingeschlafen. Ich setze mich ihr
gegenüber in den Sessel meines Vaters und betrachte sie. Ihre Lider sind
bläulich, ihr Mund ist leicht geöffnet. Wo, denke ich, ist sie in den letzten
zehn Tagen gewesen, und was hat sie getan?
    Ich mache mir klar, wie leicht mein Vater Warren bei seinem Besuch
hätte verraten können, daß Charlotte oben lag und schlief. Dann wäre es vorbei
gewesen. Man hätte Charlotte in meinem Schlafanzug mit den himmelblauen und
rosaroten Bären Handschellen angelegt, hätte sie zum Jeep hinausgeführt und
fortgebracht. Wir hätten sie vielleicht nie wiedergesehen. Mein Vater hätte
später immer behauptet, es sei das Beste gewesen, und ich hätte immer gewußt,
daß das nicht stimmt.
    Wo Warren wohl seine Handschellen aufbewahrt? Trägt er eine
Schußwaffe?
    Ich greife nach einem Buch, in dem ich bisher nur gelegentlich gelesen
habe, ein Zeichen dafür, daß ich es bald ganz weglegen werde. Ich suche die
Stelle, wo ich war, und versuche, ein paar Sätze aufzunehmen, aber ich kann
mich nicht konzentrieren. Ich lege das Buch mit einem Knall auf den Tisch.
    Charlotte öffnet die Augen.
    Â»Möchten Sie mein Zimmer sehen?« frage ich.
    Sie setzt sich auf und blinzelt ein wenig benommen.
    Â»Ich könnte Ihnen ein Foto von meiner Mutter zeigen«, füge ich
hinzu.
    Â»Ja, klar«, sagt sie.
    Wir gehen die Treppe hinauf in mein Zimmer, in dem ich Ordnung
gemacht habe, während Charlotte geschlafen hat. Mein Schlafanzug und die leere
Ring-Ding-Packung sind nirgends zu sehen. Charlotte scheint aufzuatmen, sobald
sie über die Schwelle getreten ist, als wäre mein Zimmer vertrautes Gebiet. Sie
bewundert das Wandgemälde oder tut jedenfalls so, und merkwürdigerweise kommt
es mir nicht mehr ganz so dilettantisch vor. Ich muß an Steve mit der
erfundenen Telefonnummer in der Tasche denken und hätte gern gewußt, wen er
wohl mit seinem Anruf überrascht hat.
    Â»Schön«, sagt Charlotte. Sie hat die Hände in die hinteren Taschen
ihrer Jeans geschoben und steht in einer Haltung, die die Wölbung ihres Bauchs
hervortreten läßt.
    Ich betrachte das Zimmer und sehe es mit dem unvoreingenommenen
Blick einer Fremden: der Schreibtisch mit dem Schuhkarton voller Glasperlen und
aufgerollten Lederschnüren; das Bett mit der Steppdecke in Weiß und
Lavendelblau, die ich aus New York mitgenommen habe; die Borde mit den Spielen,
die ich nicht mehr spiele; der Tisch neben dem Bett mit der Leselampe und dem
Radio. Wer die Nachtigall stört liegt auf dem Boden.
Ich muß es für die Schule lesen.
    Charlotte kauert auf der Bettkante, die einzige Sitzgelegenheit
außer dem Schreibtischstuhl.
    Â»Hast du dir schon mal einen französischen Zopf gemacht?« fragt sie.
    Â»Nein.«
    Â»Ich glaube, der würde dir gut stehen. Soll ich dir einen machen?«
    Â»Au ja.«
    Â»Setz dich hier zu mir«, sagt sie. Sie hebt die Hände zu meinen
Haaren und zieht sie hinter die Ohren zurück. Beim zarten Spiel ihrer Finger
schließe ich unwillkürlich die Augen. Niemand hat mich mehr so berührt, seit
meine Mutter gestorben ist.
    Â»Ich brauche eine Bürste«, sagt sie.
    Â»Sie liegt auf dem Fensterbrett.«
    Ich setze mich vor meinen Schreibtisch, und Charlotte stellt sich
hinter mich. Sie bürstet meine Haar nach oben. Das Bürsten ist beruhigend wie
das Spiel ihrer Finger und erinnert mich an meine Mutter. Ich sinke in einen
Traumzustand zwischen Wachen und Schlafen. Eine Zeitlang arbeitet sie, ohne zu
sprechen.
    Â»Sind Sie ein Einzelkind?« frage ich.
    Â»Nein«, antwortet sie. »Ich habe zwei ältere Brüder. Meine Eltern
sind Franco-Kanadier, sehr streng und sehr fromm. Meine Brüder wollen mich
immer beschützen.«
    Â»Wissen sie es?«
    Â»O Gott, nein«, sagt Charlotte. »Sie würden mich umbringen.
Garantiert würden meine Brüder … Na, du weißt schon, meinen Freund
umbringen.«
    Freund . Das Wort löst eine Empfindung in
mir aus, ähnlich wie Mitschuldiger .
    Â»Wo habt ihr früher gelebt?« fragt sie, während sie mein Haar in
einzelne Strähnen aufteilt.
    Â»In New York.«
    Â»Und warum seid ihr hier raufgezogen?«
    Â»Mein Vater wollte das.

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