Stille über dem Schnee
Deli Mr. Dillon und für mich ein ganz neuer Dad,
kultiviert und faszinierend in seinen weiÃen Hemden und korrekten Anzügen unter
dem offenen Mantel, der hinter ihm herwehte, wenn wir über den Bürgersteig
liefen und er mit erhobenem Arm einem Taxi winkte.
Gegen halb vier überkam mich meistens ein erster Anflug von
Müdigkeit und Langerweile, aber meine Mutter war im allgemeinen pünktlich um
vier wieder da. Mit Einkaufstüten beladen, traf sie ein, erhitzt und ein wenig
auÃer Atem von ihrem »freien Tag«. Es kam mir stets so vor, als wäre sie
gerannt. Die Einkaufstüten waren immer aufsehenerregend: manche glänzend
pinkfarben mit weiÃen Streifen; andere schwarz mit groÃen goldenen Lettern.
Mein Vater spielte den Entsetzten angesichts solcher Verschwendung, aber ich
wuÃte, daà er in Wirklichkeit nichts dagegen hatte. Einmal, als sie glaubten,
ich wäre zur Toilette gegangen, und mit dem Rücken zur Tür standen, zog meine
Mutter etwas aus einer Tüte und nahm es aus dem Seidenpapier, in das es
eingehüllt war. Ich sah ein Stück blaue Seide, einen Streifen feine Spitzen.
Mein Vater gab meiner Mutter einen Klaps auf den Po, sie sprang weg und lachte.
Wenn es dann Zeit war zu gehen, umarmte mein Vater mich so fest, als
flögen wir nach Paris, und er würde uns monatelang nicht sehen, obwohl er uns
gleich mit dem Zug um 18.20 Uhr nachkommen würde. Meine Mutter und ich muÃten
laufen, um den Zug zu erreichen, und sie war unweigerlich eingeschlafen, noch
ehe wir aus dem Tunnel wieder herauskamen. Ich schaute heimlich in die
Einkaufstüten, öffnete Schuhkartons, betastete Wolle, Seide und Baumwolle.
Meistens schlief auch ich irgendwann ein, an ihre Schulter gelehnt oder auf
ihrem Schoà zusammengekuschelt.
Am Abend kommt Charlotte in ihrer Jeans, der weiÃen Bluse und
der Strickjacke herunter. An der Küchentür bleibt sie stehen, die Arme an die
Brust gedrückt. Ihre Augen sehen müde aus, und ihre Nasenlöcher sind rötlich.
»Hallo«,
sage ich.
Ich kämpfe mit einem Kartoffelschäler, dessen Griff locker ist. Für
Kartoffeln und Salat bin ich zuständig. Mein Vater brät am Herd drei
Hühnerbrustfilets. Er steht mit dem Rücken zu Charlotte und dreht sich nicht
um, als ich sie begrüÃe. Ãber dem Scheitel stehen ihm die Haare in die Höhe,
wie er sie vorhin beim Abnehmen der Wollmütze hochgezogen hat. Fast den ganzen
Nachmittag hat er geschippt, im Wettlauf mit dem Schnee, aber er hat kaum eine
Chance.
Von Charlottes Zimmer aus bin ich vorhin dem Ruf meines Vaters
gefolgt und nach unten gegangen, aber er wollte sich lediglich vergewissern,
daà ich mich nicht bei Charlotte aufhielt. Dann habe ich in meinem Zimmer die
beiden Weihnachtsgeschenke eingewickelt, mit denen ich fertig bin: eine
blau-weià gestreifte Mütze mit gerolltem Rand für meinen Vater und ein Paar
Fäustlinge für Jo, denn wir fahren bald zusammen zum Skilaufen. An der
Perlenschnur für meine GroÃmutter muà ich noch arbeiten. Aus Langerweile bin
ich dann ins Wohnzimmer hinuntergegangen und habe mit Holzspänen aus der
Werkstatt meines Vaters ein Feuer gemacht. Beim Anblick des Feuers muÃte ich an
Marshmallows denken, und ich habe in einer Küchenschublade tatsächlich noch
einen geöffneten Beutel gefunden. Die Marshmallows waren vom Sommer und
steinhart. Ich habe ungefähr ein Dutzend an einem aufgebogenen
Metallkleiderbügel aufgespieÃt und am Feuer geröstet. Danach war mir schlecht,
und der Appetit aufs Abendessen war mir vergangen. Ich legte mich aufs Sofa und
starrte ins Feuer, bis mir nicht mehr schlecht war, und dachte darüber nach,
daà eine einzige kleine Entscheidung ein ganzes Leben verändern kann. Eine
Entscheidung, die in Sekunden fällt. Was wäre geworden, wenn ich an dem
Dezembernachmittag vor zehn Tagen, als mein Vater von seiner Werkbank hochsah
und »Fertig?« fragte, »Nein« geantwortet hätte? Daà ich zu Hause bleiben wolle.
Daà ich hungrig sei oder Hausaufgaben machen müsse. Wenn wir diesen Spaziergang
nicht unternommen hätten, gäbe es jetzt kein Baby Doris. Die Kleine wäre im
Schnee erfroren. Wir hätten von Marion oder Sweetser davon gehört und wären
wahrscheinlich entsetzt und bekümmert gewesen, wie man das ist, wenn in der
Nähe ein Verbrechen geschieht. Vielleicht hätten mein Vater und
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