Stille über dem Schnee
ich
Schuldgefühle gehabt, weil wir an dem Tag keine Waldwanderung unternommen
hatten. Keine Charlotte und kein Detective Warren wären in unser Leben
getreten.
»Ist Nicky dein richtiger Name?« fragt Charlotte jetzt.
Ich warte darauf, daà mein Vater antwortet, irgendeine Bemerkung
macht, und als das nicht geschieht, sage ich: »Es ist eine Abkürzung von
Nicole.« Mein Vater steht immer noch mit dem Rücken zu Charlotte, als wüÃte er
nichts von ihrer Anwesenheit. »Stimmtâs, Dad?« frage ich spitz.
Mein Vater sagt nichts.
»Kann ich was helfen?« fragt Charlotte.
»Wahrscheinlich nicht«, antworte ich.
»Dann decke ich den Tisch.« Sie schaut sich nach einem Tisch um.
»Das gibtâs bei uns nicht«, erkläre ich leise.
»Dann â dann setz ich mich schon mal.« Offensichtlich verwundert,
geht Charlotte hinaus.
»Warum bist du so?« frage ich meinen Vater, als sie weg ist.
»Wie denn?« entgegnet er, während er mit einer Zange die
Hühnerbrustfilets aus der Pfanne hebt.
»Das weiÃt du genau â unhöflich«, sage ich.
»Wie weit bist du mit den Kartoffeln?«
»Gleich fertig«, antworte ich, in dem hellen Fleisch herumbohrend.
Hinter den Küchenfenstern pfeift der Wind. Eine Minute lang fällt
der Schnee ruhig und stetig, dann wird er wieder stürmisch an die Scheibe
gefegt. Ich denke an Warren und frage mich, ob er gut zu seinen zwei Söhnen
nach Hause gekommen ist. Ich denke an Baby Doris und frage mich, ob sie
abgeholt worden ist wie geplant und wo sie ihre erste Nacht auÃerhalb des
Krankenhauses verbringt.
Charlotte, mein Vater und ich sitzen im Wohnzimmer und halten
Tabletts auf den Knien, ein Kunststück, das mein Vater und ich inzwischen
beherrschen, das Charlotte jedoch offensichtlich Schwierigkeiten bereitet. Das
Hühnchen schlittert über ihren Teller, und einige Salatschnipsel sind auf ihrem
Schoà gelandet. Sie sammelt die Blättchen mit spitzen Fingern ein.
Mein Vater iÃt mit grimmiger Entschlossenheit, sein Gesicht ist
maskenhaft starr. Er nimmt von Charlottes Anwesenheit nur Notiz, wenn es
unumgänglich ist. Ich bin beim Essen hin und her gerissen zwischen gespannter
Aufmerksamkeit für Charlotte und wachsender Ungeduld mit meinem Vater.
Charlotte iÃt fast nichts und scheint sich von uns dreien am
wenigsten wohl zu fühlen. Sie hebt kaum den Blick von ihrem Teller, scheint
jeden Bissen nur mit Anstrengung hinunterzubringen. Farbe kommt und geht in ihrem
Gesicht, als würde sie in regelmäÃigen Abständen von Wellen der Scham
überflutet. Gleich wird sie aufspringen und weglaufen, denke ich. Die
abweisende Starrheit meines Vaters bringt auch mich zum Schweigen. Von den
Geräuschen des Windes begleitet, nehmen wir unser Mahl ein, zwei- oder dreimal
flackern die Lichter, eine Mahnung, daà jederzeit der Strom ausfallen kann.
Nach zwei Wintern in New Hampshire verfügen mein Vater und ich über einen
ansehnlichen Vorrat an Kerzenhaltern, halb niedergebrannten Kerzen und
funktionierenden Taschenlampen. Ich mag es, wenn der Strom ausfällt, weil mein
Vater und ich dann für die Dauer des Unwetters ins Wohnzimmer mit dem Kamin
umziehen. Wir kampieren in Schlafsäcken und müssen erfinderisch sein, um unsere
Mahlzeiten zuzubereiten und uns die Zeit zu vertreiben. Es sind warme,
gemütliche Stunden, und ich bin stets ein wenig unglücklich, wenn plötzlich mit
dem ganzen Charme eines Polizeischeinwerfers die Lichter wieder angehen.
»Es gibt bestimmt Stromausfall«, sage ich. »Charlotte und ich können
hier im Wohnzimmer schlafen. In Schlafsäcken.«
Mein Vater wirft mir einen frostigen Blick zu.
»Ich kann gut oben schlafen«, sagt Charlotte.
»Nein, können Sie nicht«, widerspreche ich. »Da gibtâs dann keine
Heizung mehr. Die einzige Heizung ist der offene Kamin. Der hier drinnen.«
Mein Vater steht auf und trägt sein Tablett in die Küche hinaus.
Charlotte legt Messer und Gabel weg, offensichtlich froh, daà die Charade
beendet ist. Sie lehnt den Kopf an die Rückenlehne des Sessels und schlieÃt die
Augen. Ich stehe auf, nehme ihr Tablett und meines und folge meinem Vater. Er
und ich wechseln uns beim Küchendienst ab â einen Abend er, einen Abend ich â,
und ich bin ziemlich sicher, daà es mein Abend ist. Aber er hat schon mit der
Arbeit angefangen.
»Du bist
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