Stille über dem Schnee
Eiskristalle geworden; wie
Nadelstiche treffen sie mein Gesicht, wenn ich den Kopf nicht gesenkt halte.
Der Schnee bedeckt Gras und niedriges Gebüsch; er liegt nach allen Richtungen
ausgebreitet, nur die Bäume sprengen das weiÃe Bild. Jeder Kiefernast und jeder
Birkenzweig trägt WeiÃ, natürlich auch der Holzschuppen, der mein Ziel ist.
Büsche wölben sich zu Buckeln, und der Wald hat die dürre Knochigkeit des
frühen Winters verloren. Wir sind eingeschneit. Ich versuche, mir die Menschen
vorzustellen, die in diesem Haus gewohnt haben, als es Ende des neunzehnten
Jahrhunderts gebaut wurde. Damals schickte die Gemeinde keinen Schneepflug
herum, der StraÃen und Zufahrtswege passierbar machte. Und ich denke an die
Ureinwohner, die noch keine Häuser hatten und sich buchstäblich aus dem Schnee
ausgraben muÃten, um an die Luft zu gelangen.
Der Himmel scheint heller zu werden, und ich vermute, daà der dünne
Schneeschauer das Ende des Nordoststurms ankündigt. Wenn die Sonne herauskommt,
wird diese Landschaft blendend hell sein. An der StraÃe zum Haus hinauf ist ein
baumloser Hang, lang genug zum Schlittenfahren. Aber nur wenn der Schnee
ordentlich hoch liegt, kann ich da hinuntersausen, ohne durch die Spitzen des
Buschwerks gebremst zu werden. Manchmal kann ich meinen Vater überreden, die
runden Aluminiumteller herauszuholen, die wir als Schlitten benutzen, und auch
ein paarmal abzufahren. Damit hilft er mir, die Bahn glatt und schnell zu
machen.
Es genügt mir, die Schaufel ein-, zweimal probeweise in den Schnee
zu stoÃen, um festzustellen, daà er schwer ist. Die Temperatur steigt, und der
Schnee ballt sich ganz von selbst zu gröÃerer Dichte zusammen. Es könnte länger
als eine Stunde dauern, bis zum Holzschuppen zu kommen, und ich fange schon an,
meine GroÃzügigkeit zu bereuen. Ich hoffe, daà mein Vater sich meiner erbarmt,
wenn er seine Telefonate mit den Fluggesellschaften erledigt hat.
Jetzt schippe ich energisch und fange beinahe sofort an zu
schwitzen. Es kostet ungeheure Anstrengung, eine Schaufel voll Schnee so hoch
zu heben, daà man sie kippen kann. Ich reiÃe mir Schal und Mütze herunter und
mache meinen Parka auf. Nach einigen Minuten wird mir, wie vorauszusehen, kalt,
und ich muà die Sachen wieder überziehen. Dreimal mache ich dieses
An-und-Auszieh-Spiel und habe gerade beschlossen, ins Haus zu gehen und einen
Kakao zu trinken, als die Hintertür geöffnet wird.
»Hallo!« höre ich eine Stimme.
Charlotte steht zwischen Tür und Angel. Ihr Haar, das fast trocken
ist, liegt glatt und gerade auf ihren Schultern.
»Kannst du mir eine Mütze und ein Paar Handschuhe leihen?« fragt
sie.
»Wozu?«
»Damit ich dir beim Schippen helfen kann.«
Ich schüttle den Kopf. »Das geht nicht. Sie sind doch â¦Â« Ich
suche nach dem richtigen Wort. Krank stimmt nicht.
»Sie sind doch bestimmt müde.«
»Mir gehtâs gut. Ich brauche frische Luft.«
Mein Vater wird böse werden, wenn er sieht, daà Charlotte drauÃen
ist und mir beim Schneeschaufeln hilft. Wo ist er überhaupt? »Sie brauchen nur
den Sitz von der Bank hochzuklappen«, sage ich. »Da liegen Mützen und
Handschuhe.«
Sie geht ins Haus zurück und kommt eine Minute später wieder heraus.
Sie holt dreimal tief Atem, als wäre sie tagelang eingesperrt gewesen.
Vielleicht stimmt das ja auch. Sie hat die Jeans in die Stiefel gestopft,
Lederstiefel, die für den Schnee gar nicht geeignet sind. Sie hat alte
Lederhandschuhe an, die mein Vater beim Langlaufen trägt, und eine bunte Mütze,
die ich mir selbst gestrickt habe, als ich zehn war. Es sind Strickfehler
darin, und oben fängt sie an, sich aufzuräufeln.
»Okay«, sage ich. »Sie machen da weiter, wo ich jetzt aufhöre. Ich
hole die andere Schippe und fange beim Holzschuppen an. Wir treffen uns in der
Mitte.«
Der Wind hat den Schnee an die Scheunenwand getrieben, er liegt so
hoch, daà er mir fast bis zur Taille reicht. Als ich den Riegel gefunden habe,
lehne ich mich gegen die Tür und schleppe reichlich Schnee mit mir in den
dunklen, groÃen Raum. Wie immer duftet es hier angenehm nach Sägemehl und
Kiefernnadeln. Ich mache gar nicht erst Licht, ich weià ja, wo die
Schneeschaufeln stehen. In seinem Schlafzimmer mag mein Vater es mit der
Ordnung nicht so genau nehmen, in der Scheune achtet er peinlich
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