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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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darauf. Jedes
Werkzeug hat seinen festen Platz auf der Werkbank oder an der Aufhängeplatte
darüber. Größere Geräte wie Schaufeln und Harken sind an der Wand bei der Tür
aufgereiht.
    Mit der Schaufel über der Schulter stapfe ich durch die Schneewehen.
Sobald ich um die Ecke biege, sehe ich Charlotte mit schwingenden Armen im
Schnee, der neben ihr aufstiebt. Sie arbeitet mit der Kraft eines Mannes und
hat, wie ich gleich sehe, während meiner kurzen Abwesenheit mehr geschafft als
ich in der ganzen Zeit vorher.
    Sie nimmt die Mütze ab, und ihr Haar wippt rhythmisch von einer
Seite zur anderen. Sie atmet schwer, aber sie keucht nicht.
    Ich fühle mich herausgefordert und versuche, es ihr gleichzutun,
aber meine Arme sind einfach nicht kräftig genug. Bei aller wilden
Entschlossenheit muß ich bei einem Vergleich der geschippten Strecken
anerkennen, daß sie rascher vorwärts kommt als ich.
    Wir treffen näher bei meinem Ausgangspunkt als ihrem zusammen.
Charlotte wirft die letzte Ladung auf die Seite. Sie schlägt mit der Schaufel
fest auf den Boden, um den restlichen Schnee abzuklopfen. »Na also«, sagt sie
zufrieden.
    Â»Es sollte kein Wettrennen sein«, sage ich.
    Â»Wer hat was von Wettrennen gesagt?« Sie zieht die Handschuhe aus.
Es hat fast zu schneien aufgehört.
    Â»Ich geh rein«, sage ich.
    Â»Ich komme gleich nach.«
    Drinnen setze ich mich auf die Bank und ziehe die Stiefel aus. Ich
streife die Träger meiner Schneehose ab und bleibe in langer Unterhose und
Pulli stehen. Die Haare kleben mir am Kopf, und mir läuft die Nase. Meine Lippen
sind so kalt, daß ich sie nicht richtig bewegen kann.
    Â»Was tut sie?« fragt mein Vater hinter mir.
    Ich habe ihn gar nicht die Treppe herunterkommen hören. »Sie hat mir
ein bißchen beim Schippen geholfen.«
    Â»Sie schippt?«
    Â»Die meiste Zeit hat sie nur herumgestanden. Ich glaube, sie wollte
an die frische Luft. Ich wollte uns gerade Kakao machen.«
    Mein Vater sieht mich forschend an.
    Â»Um uns aufzuwärmen«, füge ich hastig hinzu.
    Mein Vater geht in die Küche, ich nehme an, er will sich eine Tasse
Kaffee holen. Statt dessen bleibt er vor der Arbeitsplatte stehen. Er stützt
die Hände auf die Resopalkante und senkt den Kopf. Ist es nur Zufall, daß er
dicht beim Telefon steht? Denkt er daran, Detective Warren anzurufen oder Chief
Boyd? Er richtet sich auf und reibt sich den Nacken. »Ich bin in der Scheune«,
sagt er.
    Ich mache den Kakao, aber Charlotte ist immer noch nicht
reingekommen. Ich stelle die Becher im hinteren Flur auf die Bank und strecke
den Kopf zur Tür hinaus. Sie ist vielleicht zehn bis zwölf Meter vom Haus
weggegangen oder gerobbt und steht jetzt da und schaut in den Wald. Ihre
Lederstiefel sind bestimmt hinüber.
    Ich
rufe sie, aber entweder sie hört mich nicht, oder sie ist so gefesselt von dem
Ausblick, daß sie von mir keine Notiz nehmen kann. Die Hände in den Taschen
ihres Parkas, steht sie da und schaut, als läge vor ihr das Meer, als wartete
sie auf die Rückkehr ihres Ehemanns von einer langen Seereise, als hielte sie
nach einem Kind Ausschau, das sie aus den Augen verloren hat.
    Â»Charlotte!« rufe ich, diesmal lauter, nachdrücklicher.
    Sie dreht den Kopf.
    Â»Kommen Sie rein!« schreie ich.
    Einen Moment lang habe ich den Eindruck, daß sie die Aufforderung
ignorieren wird. Dann aber, noch während ich hinsehe, dreht sie sich um und
tritt den Rückweg an, indem sie die Füße genau in die von ihr hinterlassenen
Stapfen setzt, ähnlich wie ich das vor Tagen Detective Warren habe tun sehen.
Einmal strauchelt sie, fängt sich, geht ein paar Schritte weiter und beginnt
dann, durch den Schnee zu springen wie ein Kind durch die Brandung am Meer.
Außer Atem erreicht sie die Hintertür.
    Â»Ich habe Kakao gemacht«, sage ich. »Ihr Becher steht auf der Bank.«
    Â»Danke.« Sie geht an mir vorbei ins Haus.
    Â»Sie haben nicht mal in die richtige Richtung geschaut«, sage ich zu
ihrem Rücken.
    Sie sitzt auf der Bank; ich hocke auf der Treppe. Ich kann sie
hören, aber nicht mehr als ihre Stiefel sehen. Ich würde gern sagen, daß sie
sie ausziehen soll – da werden die Füße schneller warm –, aber ich halte den
Mund. Ich stelle mir vor, wie sie, rot vor Kälte, den Becher mit den Händen
umschließt, um sie zu wärmen. Ich höre, wie sie in

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