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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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weiß nicht, ob du ihn mit Sirup magst oder nicht«, sagt sie. »Du
machst es am besten selbst.«
    Â»Es geht Ihnen wohl viel besser«, sage ich.
    Der goldbraune Toast schwimmt in zerlassener Butter. Ich gieße mir
ein Glas Saft ein und gehe mit meinem Tablett ins Wohnzimmer. Charlotte kommt
ein paar Minuten später nach.
    Sie setzt sich aufs Sofa, und ich nehme meinen Sessel, ganz so, als
hätte jeder im Haus bereits seinen Stammplatz. Einen Moment lang droht ihr
Tablett zu kippen, und der Sirup tropft auf den Schlafanzug. »Oh, tut mir
leid«, sagt sie und streift die klebrige Masse mit einem Finger ab.
    Beim Essen hält sie mit einer Hand ihr Haar zusammen. Sie zerteilt
den Toast mit ihrer Gabel so energisch, daß es auf dem Teller kratzt. Sie
benimmt sich so nachlässig und ungezwungen, als frühstückte sie seit Jahren mit
mir zusammen im Wohnzimmer.
    Â»Was meinst du, wie hoch der Schnee liegt?« fragt sie.
    Ich schaue zum Fenster hinaus. »Ich weiß nicht. Vielleicht einen
Meter?«
    Â»Gut für die Skifahrer«, sagt sie.
    Â»Ich fahre nach Weihnachten zum Skilaufen«, bemerke ich.
    Â»Wohin?«
    Â»Gunstock.«
    Â»Dann kannst du wieder einen Gipfel weiß anmalen«, sagt sie.
    Â»Ja, ich habe die Farbe schon gekauft.«
    Mit dem Tablett auf den Knien lehnt Charlotte sich zurück. Ich
betrachte mein Frühstück, das ich kaum angerührt habe. Der Appetit hat mich
verlassen. Ich kann mich nicht an diese Frau gewöhnen, die von einer Minute zur
anderen zwischen herzzerreißender Traurigkeit und praller Lebendigkeit
wechselt.
    Â»Wie lange dauert es, bis der Pflug kommt?« fragt sie.
    Â»Ich weiß nicht genau«, antworte ich. »Unsere Straße ist immer so
ziemlich die letzte, die drankommt. Wahrscheinlich dauert es mindestens einen
Tag. Vielleicht auch länger.«
    Â»So lang«, sagt sie, den Blick zum Fenster hinaus gerichtet.
    Ich weiß nicht, ob das etwas Gutes oder etwas Schlechtes bedeutet.
Ich möchte gern wissen, wohin Charlotte will, wenn sie wieder wegfährt.
    Ohne Erklärung stehe ich auf und trage mein Tablett in die Küche.
Ich fühle mich nicht wohl mit Charlotte im Zimmer, der Gedanke, daß mein Vater
herunterkommt und Charlotte so ungezwungen in unserem Haus vorfindet, macht
mich nervös. Ich gehe nach oben. Vor dem Zimmer meines Vaters bleibe ich stehen
und drücke mein Ohr an die Tür. Es ist nichts zu hören. »Dad?« rufe ich
gedämpft.
    Â»Komm rein«, antwortet er von der anderen Seite.
    Er sitzt angekleidet auf der Bettkante. Er hat Jeans an, einen
marineblauen Pullover und darunter ein Flanellhemd. Er ist gerade dabei, seine
Socken überzuziehen. Seine Haare sind an den Seiten plattgedrückt und oben auf
dem Kopf zu einem Kamm zusammengeschoben wie bei irgendeinem verrückten Vogel
in einer der Trickfilmserien am Samstagmorgen.
    Im dämmrigen Licht sehe ich, daß auf seiner Kommode alles mögliche
herumliegt, Zeitschriften, Kleingeld, ein zusammengeknülltes Taschentuch, ein
einzelner Lederhandschuh, seine Brieftasche. In der Ecke steht ein Stuhl, der
als Ablage dient. An diesem Morgen stapeln sich Flanellhemden, Jeans und
Handtücher darauf. Ein Wecker und ein weißer Becher stehen auf dem Nachttisch
meines Vaters, daneben liegt ein Buch über den amerikanischen Bürgerkrieg. Eine
Kerze und eine Taschenlampe sind auch da. Für alle Fälle.
    Ich trete einen Schritt näher. »Ist alles in Ordnung?« frage ich.
    Â»Natürlich. Wieso?«
    Â»Weil du nicht runtergekommen bist.«
    Â»Es ist gestern spät geworden.«
    Meine Augen gewöhnen sich an das trübe Licht, und mir fällt auf, daß
mein Vater über den Ohren kleine graue Haarbüschel hat. Sind die neu?
    Â»Schneit es noch?« fragt er.
    Â»Ja.«
    Mein Vater steht auf und massiert sich dabei das Kreuz. »Den Weg zum
Holzschuppen möchte ich auf jeden Fall schneefrei halten, falls der Strom
ausfällt.«
    Â»Okay, ich gehe schippen«, sage ich.
    Mein Vater hebt eine Augenbraue. Ich helfe nie freiwillig bei Arbeiten,
die mir verhaßt sind. Er geht zum Fenster und zieht die Jalousie hoch. Obwohl
immer noch das stumpfe Grau des Sturms die Stimmung beherrscht, glänzt das
Licht auf der Oberfläche einer kleinen Fotografie auf der Kommode. Ich gehe
noch einen Schritt weiter ins Zimmer, um das Bild anzusehen.
    Es zeigt Clara, gerade ein Jahr alt. Es

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