Stille über dem Schnee
muà kurz vor dem Unfall
geknipst worden sein. Sie trägt einen königsblauen Pulli, und irgend jemand,
vielleicht war ich es, hat ihr den dunkelblauen Schal meines Vaters um den Hals
gelegt und ihr seine Skimütze aufgesetzt. Ein unregelmäÃiger Streifen von
Stirnfransen schaut unter der Mütze hervor, und auch über ihren Ohren stehen
einige Härchen ab. Ihre Augen, unnatürlich groÃ, haben die Farbe des Pullovers
angenommen. Das Blitzlicht hat ihre hohen Wangenknochen und ihre Nase
getroffen, und das Gesicht leuchtet wie von einem inneren Licht. Ihre
Unterlippe glänzt rosig. Sie scheint entzückt über ihre Verkleidung und lächelt
so breit, daà ihre beiden oberen Schneidezähne zu sehen sind. Ãber der rechten
Augenbraue ist eine kleine rote Narbe von der GröÃe einer Erbse.
Es ist ein neues Foto, das heiÃt, es ist alt, aber es steht erst
seit kurzem auf der Kommode. Ich komme zwar nur selten in das Zimmer meines
Vaters, aber ich bin sicher, daà es an dem Abend, an dem wir das Baby gefunden
haben, noch nicht hier stand.
Etwas in mir zieht sich zusammen wie ein Schwamm, der ausgedrückt
wird.
»Sie war so schön«, sagt mein Vater hinter mir.
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 AM MORGEN VON CLARAS ERSTEM
GEBURTSTAG ging mein Vater mit mir in den Keller hinunter, wo wir bunte
Luftballons an eine Gasflasche anschlossen und sie mit Helium füllten. Die
Stimme meines Vaters, als er das Gas einatmete, klang wie die von Donald Duck.
Wir brachten die Ballons nach oben, und dort flogen sie, je nachdem, woher die
Zugluft kam, in allen Zimmern umher oder ballten sich in Trauben zusammen. Am
Abend schwebten sie fünf Zentimeter unter der Zimmerdecke, und am Mittag des
folgenden Tags waren sie auf Böden und Sessel und hinter den Fernsehapparat abgestürzt,
was mein Vater zu einem Stegreifvortrag über die Natur von Gasen, über den
Luftdruck und die Schwerkraft nutzte. Vor dem Unfall war mein Vater
berühmt-berüchtigt für seine Vorträge, die er stets mit groÃem Ernst hielt und
für die er gleichermaÃen ernste Aufmerksamkeit erwartete. Manchmal verdrehte
meine Mutter die Augen und sagte durchaus liebevoll: »Nicht schon wieder«, aber
ich genoà diese Anlässe, bei denen ich im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit
stand. Manchmal befaÃten sich die Vorträge mit wissenschaftlichen oder
geschichtlichen Phänomenen, häufig jedoch waren es Moralpredigten. Mehrmals
hörte ich den Vortrag zum Thema Das schaffst du! , meist
dann, wenn ich vor einer Prüfung oder einem Spiel nervös war. Ganz gewià nie
vergessen werde ich den Vortrag Dein guter Ruf ist
unersetzlich , als ich zur ersten Party mit Jungen eingeladen war. Und
regelmäÃig muÃte ich mir Ãbung macht den Meister anhören, wenn ich mich über ein Arbeitsblatt in Mathe beschwerte oder keine
Lust hatte, Klarinette zu üben. Mit neun konnte ich die Vorträge auswendig,
aber ich hatte doch noch so viel Respekt vor meinem Vater, daà ich freche
Bemerkungen nicht wagte. Ich habe mich seither oft gefragt, wie sich die Dinge
zwischen uns entwickelt hätten, wenn ich ohne die Erschütterung durch die
Katastrophe in die Pubertät gekommen wäre; wann der Zeitpunkt gekommen wäre, da
ich mir vorgemacht hätte, mein Vater könnte mir nichts mehr beibringen.
Am
Tag zuvor war meine Mutter mit mir in die Stadt gefahren, weil ich meiner
kleinen Schwester ein Geschenk kaufen wollte. Es war das erstemal, daà ich
allein in die Geschäfte ging, und ich war aufgeregt und auch ein wenig
ängstlich. Meine Mutter gab mir eine ganze Litanei von Ermahnungen mit auf den
Weg und lieà sich dreimal wiederholen, wann und wo wir uns später wieder
treffen würden. Ich wollte das Geschenk von meinem eigenen Geld bezahlen, zehn
Dollar aus meiner Sparbüchse.
Als erstes ging ich in das Kaufhaus, das meine Eltern Five-and-Ten nannten, obwohl man da für fünf oder zehn Cent
überhaupt nichts bekam. Ich streifte durch die Gänge der Spielzeugabteilung,
nahm Puppen, Puzzles und Brettspiele zur Hand. Das Problem war, sagte ich mir,
daà Clara eigentlich noch gar nichts Richtiges spielen konnte, bloà Bauklötze
aufeinanderstellen und Plastikringe über einen Stab stülpen. Ich ging wieder
und schaute mich in dem Kindermodengeschäft gleich nebenan um, wo es gesmokte
Kleidchen und Leinenhütchen gab und wo ein simples Paar Söckchen sechs
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