Stille über dem Schnee
ihre heiÃe Schokolade pustet
und dann vorsichtig trinkt.
»Würdest
du mir die Stelle zeigen?« fragt sie.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Das wissen Sie genau.«
»Ich verstehe nicht, was daran schlimm sein soll.«
»Es ist aber schlimm«, entgegne ich, obwohl ich nicht sicher bin,
daà ich genau erklären könnte, was das schlimme daran ist.
»Ich möchte es doch nur sehen«, sagt sie.
»Warum? Wozu soll das gut sein?«
»Das kann ich nicht erklären.«
»So ein Quatsch«, sage ich.
Sie schweigt. Ich stelle meinen Becher neben mich und lasse meinen
Kopf in die Hände sinken. »Es wäre wahnsinnig anstrengend, da hinzukommen«,
sage ich nach einiger Zeit. »Und gefährlich. Sie haben wahrscheinlich noch nie
Schneeschuhe an den FüÃen gehabt.«
Ich höre, wie sie sich schneuzt. »Aber natürlich«, sagt sie.
Tatsächlich? Ich weià so wenig über ihr Leben. »Ich weià nicht mal
mit Sicherheit, ob ich die Stelle finden würde«, fahre ich fort. »Die Spuren sind
wahrscheinlich alle verschneit.«
In Wirklichkeit bin ich ziemlich sicher, daà ich die Stelle finden
könnte. Ich habe den Weg inzwischen zweimal zurückgelegt, hin und zurück, und
ich bin überzeugt, daà ich die Anordnung der Bäume und den Abstand zum Hügelhang
wiedererkennen würde. Auf jeden Fall weià ich, welche Richtung ich einschlagen
muÃ.
»Es hört auf zu schneien«, sagt sie.
»Und?«
»Da finden wir leicht wieder zurück. Auf den Spuren, die wir
hinterlassen.«
»Da ist nichts, Charlotte. Nur ein Stück orangefarbenes
Plastikband.«
Sie sagt nichts, und in dem langen Schweigen fasse ich einen
EntschluÃ. Ich weiÃ, daà er falsch ist und daà ich ihn beinahe mit Sicherheit
bereuen werde. Aber in mir ist eine Verwegenheit erwacht, die hinauswill. »Also
gut«, sage ich. »Ich machen Ihnen einen Vorschlag.«
»Was für einen Vorschlag?«
»Sie beantworten meine Fragen, und dann führe ich Sie vielleicht
hin.« Ich weiÃ, daà ich mich auf gefährlichem Terrain bewege. Wenn ich Fragen
stelle und sie sie beantwortet, muà ich meinen Teil der Abmachung erfüllen.
»Okay«, sagt sie.
Ich atme laut aus. »Wer ist er?« frage ich.
»Er heiÃt James«, antwortet Charlotte ohne Zögern.
James, denke ich. »Wie haben Sie ihn kennengelernt?«
»Auf dem College«, sagt sie. »Wie viele Fragen willst du mir
stellen?«
»Ich weià noch nicht. Ein paar. Auf welchem College?«
Eine Pause. »Darauf kann ich nicht antworten«, sagt sie. »Frag was
anderes.«
»Lieben Sie ihn noch?« frage ich, gewiÃ, daà sie das Zittern meiner
Stimme wahrnimmt.
Sie zögert. »Ich weià es nicht«, antwortet sie mit Bedacht. »Ich
habe ihn wahnsinnig geliebt.« Sie hält inne. »Ich war verrückt nach ihm.«
In ihrer Stimme liegt eine Schwingung, die mich daran erinnert, wie
Leute über jemanden sprechen, der gestorben ist; oder den sie vor langer Zeit
einmal geliebt haben; den sie vielleicht insgeheim immer noch lieben.
»Weià er, wo Sie sind?« frage ich.
»Nein.«
Ich bin erleichtert bei dieser Antwort. Mir war unbehaglich bei der
Vorstellung, daà er, irgendwo versteckt, auf sie wartet, im Hotel im Ort
vielleicht.
»Er war hinreiÃend«, fügt sie leise hinzu.
Ich habe noch nie gehört, daà jemand einen Mann oder Jungen als
hinreiÃend beschrieben hat. »Wie sieht er aus?« frage ich.
»Er hat sehr dunkles, lockiges Haar, das ihm in die Stirn fällt. Er streicht
es dauernd zurück â das ist so eine Angewohnheit. Und grüne Augen. Vorn sind
seine Zähne überkront â vom Hockeyspielen. Er ist nicht übermäÃig groÃ.«
»Wer hat das Baby in den Schnee rausgebracht?« frage ich mit
angehaltenem Atem.
Und während ich da auf der Treppe sitze, scheint mir, daà meine
Zukunft an ihrer Antwort hängt, daà alles, was ich je über Menschen wissen oder
denken werde, davon abhängt, was sie gleich sagen wird.
Charlotte schweigt lange. Ich schiebe meinen Kopf um die Ecke. Sie
sitzt mit dem Rücken zur Wand und starrt zum Fenster hinaus.
»Wir haben beide beschlossen, in das Motel zu gehen«, sagt sie
schlieÃlich.
Es ist nicht die Antwort, die ich haben wollte, aber ich sage nichts
mehr. Ich habe meine Fragen
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