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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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gestellt, und sie hat sie beantwortet. Ich stehe
auf, mit wackligen Beinen. Um ihnen Halt zu geben, stemme ich meine Hände auf
die Oberschenkel. Dann hole ich noch einmal tief Luft und atme wieder aus.
    Â»Gut«, sage ich. »Ich bringe Sie jetzt hin.«

 
    Â  AN DEM ABEND, ALS CLARA
GEBOREN WURDE , kam mein Vater zu mir ins Zimmer und sagte, ich würde bei
Tara übernachten. Ich hatte schon gemerkt, daß es den Tag über kleine Störungen
im gewohnten Ablauf der Dinge gab – Aufregungen wie über einen verlegten
Schlüssel oder eine Hundepfütze auf dem Teppich –, kleinere Kalamitäten, für
die ich mich nicht näher interessierte. Tatsächlich meldete sich Clara drei
Wochen zu früh, und das Einsetzen der Wehen kam überraschend für meine Eltern.
    Ich
lag in meinem Bett und las. Mein Vater schien völlig außer sich, aber auf diese
besondere Art, wie Eltern sie an sich haben, wenn sie die Kinder nicht
beunruhigen wollen, aber selbst nicht recht weiterwissen. Er riß
Kleidungsstücke aus den Kommodenschubladen und stopfte sie in eine große
Papiertüte. Ich blieb gleich im Schlafanzug und zog nur meine Jacke darüber.
Ich sagte meiner Mutter auf Wiedersehen, aber sie war schon weit weg, einzig
auf das Urbeben in ihrem Innern konzentriert. Ich wollte gern eine Umarmung
oder einen Kuß, und ich hätte mir eins davon vielleicht erkämpft, wenn ich
nicht lockergelassen hätte, aber mein Vater hatte es eilig, mich wegzubringen,
um so schnell wie möglich zu seiner Frau zurückzukehren, und zog mich am Ärmel
mit sich.
    So entspannt er normalerweise beim Autofahren war, so verkrampft umklammerte
er jetzt das Lenkrad. Auf meine Fragen gab er nur einsilbige Antworten, mit
seinen Gedanken offensichtlich ganz woanders. Es waren nicht einmal zwei
Kilometer von uns bis zu den Rices, aber die Fahrt schien mir ewig zu dauern.
    Â»Was ist denn nur los?« fragte ich. »Muß Mum sterben?«
    Â»Nein, nein. Es ist alles in Ordnung. Völlig in Ordnung.«
    Mrs. Rice’ übertriebene Begrüßung, als wir ankamen, machte mich
noch ängstlicher. »Wenn wir irgend etwas tun können …«, gurrte sie dem
sich schnell entfernenden Rücken meines Vaters hinterher.
    Ich stand am Fenster und sah meinem Vater nach, wie er zu seinem
Saab rannte. Als er losfuhr, legte er einen Start hin wie ein jugendlicher
Raser. Würde das Baby sterben? Tara stand neben mir,
während ich leise weinte, und kaute wie wild auf ihren Fingernägeln. »Aber,
aber«, sagte Mrs. Rice, bevor sie das amerikanische Heilmittel für alle
Lebenslagen anbot: »Möchtest du etwas essen?«
    Eine Stunde später hatte ich meinen Kummer vergessen. Tara und ich
durften lange aufbleiben, wir spielten Räuber und Gendarm mit ihrem Bruder und
schliefen uns am nächsten Morgen, Thanksgiving, aus. Und als ich um zehn in die
Küche kam, hörte ich zu meiner Überraschung, daß ich eine kleine Schwester
bekommen hatte, die Clara hieß.
    Die Einzelheiten erfuhr ich erst später. Meine Schwester, die es
nicht erwarten konnte, ans Licht der Welt zu kommen, wurde im Aufzug geboren,
sehr zum Schrecken des Pflegers, der meine Mutter im Rollstuhl zur
Entbindungsstation hinaufbringen sollte. Der Pfleger hielt den Aufzug im
nächstmöglichen Stockwerk an, rief lautstark um Hilfe, und ein Orthopäde in
Hemd und Krawatte, der nach einem langen Tag im Krankenhaus heim zu seiner
Familie wollte, holte meine Schwester auf die Welt. Alle waren hinterher fix
und fertig, am meisten mein Vater, der auf die Knie gefallen war, um seine
Tochter aufzufangen, bevor sie auf dem Fußboden landete.
    Als er mich später abholte, um mit mir ins Krankenhaus zu fahren,
war er im Vergleich zum vergangenen Abend wie umgewandelt. Er pfiff vergnügt
vor sich hin, während er den Wagen lässig mit einem Finger lenkte, und als er
mir die Geschichte von der Geburt im Aufzug erzählte, lachte er die ganze Zeit,
als hätte ihm gerade jemand einen glänzenden Witz erzählt. Er ging mit mir in
die Säuglingsstation hinauf und zeigte mir meine Schwester. Ich dachte, er
hätte sich geirrt. Ich prüfte den Namen. Nein, kein Irrtum. Auf dem kleinen
Etikett über dem Bettchen stand Baby Baker-Dillon .
    Clara hatte einen unförmigen Kopf und schlitzige kleine Rattenaugen.
Ihre Haut bekam krebsrote und violette Sprenkel, als sie weinte. Sie

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