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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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sie in einem
Schlafsack, den er im Kofferraum hatte, zurückgelassen. Ich war wie wahnsinnig.
Ich habe ihn ins Gesicht geschlagen. Ich habe mich auf den Boden geworfen. ›Sie
kann noch am Leben gewesen sein‹, schrie ich immer wieder. Und er sagte: ›Nein.
Sie war nicht mehr am Leben.‹ ›Was war dann in dem Korb?‹ schrie ich. Und er
sagte: ›Nichts.‹ Als ich ihn fragte, warum er es mir nicht gleich gesagt habe,
sagte er: ›Ich dachte, du würdest durchdrehen, und ich würde es nicht schaffen,
dich ins Auto zu kriegen. Ich wollte dich erst nach Hause bringen.‹ Ich schrie:
›Nach Hause? Ich wäre lieber tot!‹«
    Draußen im Flur senke ich den Kopf auf meine Knie.
    Â»Dann sah ich, daß James auch weinte, genausosehr wie ich, und das
machte mir erst richtig angst, denn da glaubte ich ihm. Ich wußte, daß alles,
was er gesagt hatte, wahr war, und – o Gott, ich war so traurig …«
    Ich schlinge die Arme um meinen Kopf.
    Â»â€ºDas ist die Strafe‹, sagte ich zu James«, fährt Charlotte fort.
»›Wofür denn?‹ fragte James. ›Dafür, daß wir es verheimlichen wollten. Daß wir
keinem Menschen etwas gesagt haben. Daß wir nicht ins Krankenhaus gegangen
sind. Wenn wir ins Krankenhaus gegangen wäre, würde sie noch leben.‹ Er sagte,
das wüßten wir nicht. Aber ich war sicher. Und das machte alles noch viel
schlimmer. Er blieb die Nacht über bei mir und fast den ganzen nächsten Tag.
Aber dann sagte er, er müsse nach Hause, zu seinen Eltern. Es seien ja
Weihnachtsferien, und er habe schon zu viele Ausreden dafür vorbringen müssen,
daß er nicht gleich nach Hause gekommen sei. Ich sagte, ich würde schon
zurechtkommen. Ich wollte, daß er fährt. Ich wollte nur allein sein. James
packte seine Sachen und sagte tschüs, und ich erinnere mich, daß wir uns nicht
einmal geküßt haben. Ich dachte, das hat etwas zu bedeuten. Ich wußte, daß er
genauso dringend von mir weg wollte wie ich von ihm.« Sie hält inne. »Er hat
mich nicht geliebt, nicht wahr?«
    Â»Nein«, sagt mein Vater.
    Â»Einem Menschen, den man liebt, würde man doch so etwas nicht
antun?«
    Â»Nein.«
    Charlotte beginnt wieder zu weinen. Nach einiger Zeit höre ich, daß
sie sich schneuzt.
    Â»Ungefähr eine Stunde später bin ich ins Schlafzimmer gegangen, weil
ich mich hinlegen wollte. Das Radio lief. Ich weiß noch, daß mich das gewundert
hat. Ich hatte nicht die Kraft, um das Bett herumzugehen und es auszumachen.
Ich habe mich nur hingelegt und mir die Decke über den Kopf gezogen. Als die
Nachrichten kamen, hörte ich etwas von einem ausgesetzten Säugling, dessen
Zustand stabil sei. Ich setzte mich auf. Der Sprecher nannte einen Ort namens
Shepherd in New Hampshire. Ich wußte nicht, wie der Ort hieß, in dem das Motel
war, aber ich hatte eine Karte von Neuengland im Auto. Ich ging raus und
schaute nach, wo Shepherd liegt. Dann rannte ich wieder rein, holte meine
Schlüssel und fuhr zum Laden, um mir eine Zeitung zu besorgen. Darin war ein
Artikel über das ausgesetzte Baby. Ich war so glücklich. So unheimlich
glücklich, daß sie nicht tot war.« Charlotte schweigt einen Moment. Dann sagt
sie: »Da wurde mir mit einem Schlag alles klar. Ich habe begriffen, was James
getan hat. Er hatte sie ausgesetzt und dem Tod überlassen! Im ersten Moment konnte ich es nicht glauben. Ich versuchte mir einzureden, er
sei einem schrecklichen Irrtum erlegen. Er hätte wirklich geglaubt, sie wäre
tot, obwohl sie es nicht war. Aber langsam ging mir auf, daß er gewußt haben
muß, daß sie lebt, und er ist trotzdem in den Wald geschlichen und hat sie dort
im Schnee ausgesetzt. Ich konnte kaum atmen. Ich habe nicht geweint. Ich konnte
nicht schreien. Es war einfach gar nichts.«
    Â»Er hat es vorsätzlich getan«, sagt mein Vater. »Er wußte, daß die
Kleine lebt.«
    Charlotte schweigt.
    Â»Er hat es von Anfang an geplant«, sagt mein Vater.
    Â»Ich weiß nicht«, entgegnet Charlotte. »Vielleicht ist er nur in
Panik geraten. Ich kann nicht glauben, daß er diese ganze lange Fahrt mit mir
gemacht hat und die ganze Zeit wußte, daß er sie töten würde.«
    Â»Warum haben Sie es nicht der Polizei gemeldet?«
    Â»Ich hatte Angst«, antwortet Charlotte. »Ich wußte, daß man mich

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