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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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beschlossen hätte,
doch in New York einen Neuanfang zu versuchen? Was, wenn meiner Mutter, als sie
im Einkaufszentrum ein Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern kaufte, eine Münze
heruntergefallen wäre und sie sich gebückt hätte, um sie aufzuheben, und
dadurch zwei Sekunden später zu ihrem Auto gekommen wäre? Was, wenn mein Vater
nicht, wie er das einer Erzählung meiner Mutter zufolge getan hat, an einem
Frühlingsmorgen in die Universitätsbibliothek gegangen wäre, um über das Spiel
zwischen den Orioles und den Yankees vom vergangenen Abend nachzulesen, und an
der Ausleihe meine Mutter gesehen hätte, die für einen Chemietest lernte, während
sie ihre Stunden für das Programm »Arbeit im Studium« absaß; was, wenn er sie
nicht ganz spontan gefragt hätte, ob er vielleicht die Genehmigung bekommen
könnte, sich eine Reihe seltener Jefferson-Zeichnungen aus dem Tresor
anzusehen?
    Dann gäbe es mich nicht. Mein Vater und meine Mutter hätten nicht
geheiratet. Clara wäre nie zur Welt gekommen.
    Ich möchte gern glauben, daß es meinem Vater und mir bestimmt war,
Baby Doris zu finden und ihr eine Chance zu leben zu geben. Aber ich bin da
jetzt nicht mehr so sicher. Während ich noch über Unfälle und sich kreuzende
Spuren nachdenke, schlafe ich ein.

 
    Â  SECHS TAGE NACH IHRER GEBURT bekam
Clara Husten und Fieber. Meine Mutter ging mit ihr zum Kinderarzt, der ein
leichtes Antibiotikum und lauwarme Bäder verschrieb, bei denen meine Schwester
brüllte. Die Temperatur fiel, und meine Mutter glaubte, das Schlimmste wäre
überstanden. An diesem Nachmittag ging ich ins Zimmer meiner Eltern, um Clara
zu sehen, die in ihrem Bettchen schlief. Sie lag auf dem Rücken, nackt bis auf
die Windel. Meine Mutter, die seit dem Abend zuvor nichts gegessen hatte, war
nach unten gegangen, um sich einen Teller Suppe zu machen.
    Ich
setzte mich auf das Bett meiner Eltern und schaute zum Bettchen, in dem Claras
kleiner Körper bald scharf, bald unscharf zu erkennen war, je nachdem, ob ich
die Holzstäbe des Gitters anstarrte oder Clara selbst. Das Laken und die
Bettdecke waren aus pastellfarbenem kariertem Stoff; eine etwas abgegriffene
Stoffente, die wir Quack-Quack nannten, hockte in einer Ecke. Quack-Quack war
noch erstaunlich gut in Form, wenn man von dem fehlenden Flaum an ihrem Kopf
absah. In meinen Augen sah sie wirklich ein wenig gruslig aus, und ich war
froh, als Clara sie geerbt hatte. Während ich dasaß und schaute, richtete ich
meinen Blick längere Zeit auf Clara, und da fiel mir auf, daß ihr Magen
unterhalb des Brustkorbs sich bei jedem Atemzug zusammenzog. Ich hatte das noch
nie bei einem Baby gesehen und fand es faszinierend. Es war, als wäre ihre Haut
aus dünnem Gummi, und von hinten söge ihr jemand die Luft durch den Rücken
heraus. Ein paar Minuten lang sah ich mir das interessiert an, dann kam mir
plötzlich der Gedanke, daß das vielleicht nicht normal war. Ich lief zur Treppe
und rief meine Mutter.
    Â»Mum?«
    Ich hörte sie in der Küche.
    Â»Mum?« schrie ich noch einmal.
    Â»Was ist denn?« fragte sie, zur Treppe kommend.
    Â»Claras Bauch macht so komische Bewegungen«, sagte ich.
    Vielleicht war es mir aufgefallen, weil ich mich auf Augenhöhe mit
meiner Schwester befand. Vielleicht auch nur, weil ich mich gelangweilt und
nicht gewußt hatte, was ich mit mir anfangen sollte.
    Meine Mutter kam die Treppe heraufgelaufen.
    Â»Siehst du?« Ich zeigte es ihr. »Wie es rauf und runter geht?«
    Â»Du hast recht«, sagte sie, ohne zunächst zu wissen, was das zu
bedeuten hatte. »Ich rufe Dr. Blake an.«
    Sie setzte sich aufs Bett und telefonierte. Sie war noch dabei,
Claras Zustand zu beschreiben, als sie unterbrochen wurde. Sie setzte sich
kerzengerade auf. »Ja«, sagte sie. »Wir kommen sofort.«
    Sie legte auf und rief den Rettungsdienst an.
    Â»Mum?« fragte ich. »Was ist los?«
    Â»Es ist nichts Schlimmes«, sagte sie. »Wir müssen Clara nur
untersuchen lassen.« Sie hob Clara aus dem Bett und drückte sie an ihre
Schulter. »Nimm die Windeltasche«, sagte sie zu mir.
    Â»Was ist denn?« fragte ich.
    Â»Wir warten auf einen Krankenwagen«, sagte sie.
    Â»Fahren wir ins Krankenhaus?«
    Â»Ja.«
    Â»Warum nehmen wir nicht einfach das Auto?«
    Â»Dr. Blake meinte, der Krankenwagen wäre schneller.«
    Meine Mutter

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