Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
gesagt, daß
er auf die Plazenta achten soll, die mußte ja noch kommen. Ich hatte starke
Schmerzen, und das hat mich überrascht. Ich glaube, daß irgend etwas zerrissen
ist. Ich habe am ganzen Körper gezittert und hatte fürchterliches Kopfweh.«
    Wieder Stille.
    Â»Ich glaube, das war der Moment, als mir klarwurde, wie wenig James
das Kind haben wollte«, sagt Charlotte schließlich. »Und das hat mich wirklich
fertiggemacht. Ich habe angefangen zu weinen. Ich habe ihm gesagt, er soll die
Kleine auf den Arm nehmen und nachsehen, ob mit ihr alles in Ordnung ist. Da
schien er sich etwas zu beruhigen. Ich sagte: ›Gib sie mir‹, und er hat sie mir
gegeben. Er legte sie mir einfach auf den Bauch. Ich habe meine Hand auf sie
gelegt, aber da fing ich schon an abzudriften, mal war ich da, mal war ich weg.
Ich erinnere mich, daß ich mich aufgestützt habe, um sie anzuschauen. Ihr
Gesicht war mir zugewandt. Ich fühlte mich ungeheuer erleichtert. Dann habe ich
mich wieder hingelegt, ich wollte mich nur einen Moment ausruhen. Und da muß
ich das Bewußtsein verloren haben.«
    Â»Sie haben das Bewußtsein verloren?« fragt mein Vater.
    Â»Das nächste, woran ich mich erinnere, ist James’ Gesicht. Es hing
direkt über meinem, und er sagte: ›Steh auf. Wir müssen hier weg. Komm, wir
müssen dich irgendwie zum Auto bringen.‹ Ich sagte: ›Wo ist das Baby?‹ Und er
sagte: ›Draußen im Auto. Sie schläft in dem Korb, den wir mitgebracht haben.
Aber es ist kalt draußen, und wir müssen los.‹ Er hat mir aufgeholfen. Ich
hatte Schmerzen und konnte mich kaum bewegen. ›Du mußt so gehen, als wäre alles
normal‹, sagte er. Er hat die Zimmertür abgeschlossen und den Schlüssel
eingesteckt. Dann hat er mir ins Auto geholfen. Danach hat er die hintere Tür
aufgemacht und sich über den Korb gebeugt, als sähe er nach dem Baby, als würde
er sie noch einmal warm einpacken, und er sagte: ›Sie schläft jetzt.‹ ›Ich muß
sie stillen‹, sagte ich. Und er: ›Wenn sie aufwacht.‹ Ich weiß, daß ich mich
umgedreht und den Korb, den wir mitgenommen hatten, voller Decken sah. Ich
dachte, sie liege darin. Ich mußte zur anderen Seite rüberlangen, um meine Hand
auf die Decken legen zu können. James ließ schon den Wagen an. Ich schlief
wieder ein. Einmal wachte ich auf, ich weiß nicht, wie weit wir gefahren waren,
und sagte: ›Schläft sie immer noch?‹ Und er sagte: ›Ja.‹ Das war alles. Nur
›ja‹. Und dann bin ich wieder eingeschlafen.«
    Â»Sie haben sie nie gesehen«, sagt mein Vater.
    Â»Nur das eine Mal, als sie auf meinem Bauch lag«, sagt Charlotte.
    Â»Und was geschah dann?« fragt mein Vater. Seine Stimme ist ruhig,
fast ein wenig gnadenlos.
    Â»Als wir in der Einfahrt vor unserer Wohnung hielten, bin ich
aufgewacht. Ich sagte: ›Hol die Kleine. Vielleicht ist etwas passiert. Ich höre
sie nicht.‹ Und James sagte: ›Sie ist einmal aufgewacht. Da hast du geschlafen.
Es geht ihr gut.‹ ›Wirklich?‹ fragte ich, und er sagte: ›Komm, bringen wir dich
erst mal rein. Dann hole ich das Baby.‹ Er kam herüber auf meine Seite und half
mir aus dem Auto. Er führte mich die Treppe rauf in die Wohnung, obwohl ich die
ganze Zeit immer wieder sagte: ›Ich komm schon zurecht. Hol lieber das Baby.‹
Er half mir aus dem Mantel, und ich setzte mich aufs Sofa. Dann ging er raus,
um das Baby zu holen.«
    Charlotte schweigt lange, und ich glaube schon, sie habe ihre
Geschichte beendet.
    Aber nach einiger Zeit sagt sie: »Ich muß danach wieder ein paar
Minuten eingedöst sein. Als ich aufwachte, saß James mir gegenüber und weinte.«
    Charlotte spricht so leise, daß ich mich anstrengen muß, zu hören,
was sie sagt.
    Â»Ich wußte sofort, daß es etwas Schlimmes war. ›Was ist?‹ sagte ich.
›Was ist los?‹ Und James sagte, das Baby wäre gestorben. ›Das ist nicht wahr!‹
habe ich gerufen. ›Ich habe doch gehört, wie sie geschrien hat.‹ Er sagte, sie
sei ein paar Minuten lang am Leben gewesen, dann aber gestorben. Er sagte, er
hätte versucht, sie wiederzubeleben, mit Mund zu Mund oder so was, aber sie sei
tot gewesen. Er sagte, er habe Panik bekommen und sie in ein Handtuch
eingewickelt und hinter das Motel hinausgetragen. Dort habe er

Weitere Kostenlose Bücher