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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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gefahren«, erzählt Charlotte. »Einmal
mußte ich aussteigen. Ich konnte es nicht mehr halten. Ich hab es nicht einmal
bis in den Wald geschafft. Ich habe mich gleich auf dem Schneewall hingehockt.
Und da kriegte ich auf einmal so ein schreckliches Schaudern und sah, daß da
Blut war und … und noch etwas anderes. Auf dem Schneewall. Ich bekam Angst
und fing an zu schreien. Ich habe nach James gerufen. Er ist aus dem Wagen
gestiegen und wurde ganz blaß, als er das Blut sah. Ich konnte nicht aufstehen,
die Schmerzen waren so schlimm, da hat er mich hochgezogen und in den Wagen
geschleppt, und wir sind zu dem Motel gefahren.«
    Draußen im Flur lege ich unter dem Kinn meine geballten Fäuste
zusammen. Meine Augen sind weit offen, obwohl es nichts zu sehen gibt.
    Â»Es standen vielleicht noch zwei andere Autos auf dem Parkplatz«,
berichtet Charlotte. »Es war kaum ein Mensch da. Ich habe im Auto gewartet,
während James reingegangen ist zum Empfang. Er sagte, ich dürfe nicht schreien,
da habe ich mir in die Hand gebissen. Dann kam er wieder raus und hat mich ins
Zimmer gebracht. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie es aussah. Es
hatte scheußliche Vorhänge. Grün kariert.«
    Â»Ich habe das Zimmer gesehen«, sagt mein Vater.
    Â»Ich habe mich aufs Bett gelegt«, fährt sie fort. »Die Wehen kamen
ungefähr jede Minute. Es war kaum Zeit zum Durchatmen dazwischen. Ich habe
gestöhnt. Ich dachte, das Baby würde schnell kommen, weil ich schon so stark
geblutet hatte, aber es kam nicht. Ich hatte das Gefühl, es dauerte Stunden.«
    Â»Sie haben nicht daran gedacht, in ein Krankenhaus zu gehen?« fragt
mein Vater.
    Â»Einmal habe ich gesagt: ›Ich muß ins Krankenhaus‹, aber da kamen
die Wehen schon so schnell hintereinander, daß ich dachte, das Kind würde jeden
Moment kommen, und ich wollte nicht, daß es im Auto passiert. Ich hatte so
fürchterliche Schmerzen, daß ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, bis zum
Auto zu kommen. Ich hatte ja keine Ahnung davon, wie es ist. Was an Schmerzen
normal ist. Ich hatte Todesangst. Ich dachte, ich müßte sterben.«
    Â»Und was hat James die ganze Zeit getan?«
    Â»Manchmal hat er bei mir gesessen. Ich weiß, daß ich ihm die
Fingernägel in den Arm gebohrt habe, wenn ich eine Wehe hatte. Er ist viel
herumgelaufen. Er hatte von irgend jemandem Demerol besorgt, gegen die
Schmerzen, und er gab mir zwei mit einem Glas Wasser. Als es noch schlimmer
wurde, hat er mir noch mal zwei gegeben. Mir war es völlig egal, ob das die
richtige Dosis war oder nicht. Ich hätte auch hundert von den Dingern genommen.
Ich wollte nur die Schmerzen weghaben.«
    Ich kann meinen Vater seufzen hören.
    Â»Dann kamen die Preßwehen«, fährt Charlotte fort. »Da war mir klar,
daß ich nicht mehr vom Bett aufstehen und zum Auto gehen konnte. Ich wußte, daß
alles in diesem Motelzimmer stattfinden mußte, ganz gleich, was passierte.
James ist völlig durchgedreht. Er hat nur noch gejammert und ständig gerufen:
›Was sollen wir nur tun? Ich weiß nicht, was man tun muß.‹ Da mußte ich es ihm
eben sagen. Ich mußte ihn lotsen. Ich habe ihn gefragt, ob er den Kopf sehen
könne. Ich habe ihm gesagt, daß er sich die Hände waschen muß. Ich habe
eigentlich nur noch gestöhnt. Ich habe versucht, so zu atmen, wie es in den
Büchern steht, aber es hat nicht funktioniert.«
    Ich schließe meine Arme fester um meine Beine.
    Â»Und dann konnte ich nicht mehr aufhören zu pressen. Es waren
unglaubliche Schmerzen«, sagt Charlotte. »Es hat sich angefühlt, als würde ich
von innen aufgerissen. Ich war überzeugt, daß ich sterben würde. Ich habe
geschrien. Es ist wirklich ein Wunder, daß niemand uns gehört hat.«
    In der Küche bleibt es lange still.
    Â»Und dann war sie da«, sagt Charlotte schließlich. »Das Baby war auf
der Welt. James hat geweint. Ich habe ihm gesagt, er soll die Kleine hochnehmen
und den Schleim wegmachen, und sie hat sofort richtig laut geschrien. Sie war
ganz voll mit diesem weißen Zeug. James dachte, daß mit ihr etwas nicht stimmt.
Ich habe ihm dann gesagt, daß er die Nabelschnur abschneiden soll – die Schere
lag in meiner Tasche in einem Plastikbeutel –, und das hat er getan. Dann habe
ich ihm gesagt, er soll sie in ein Handtuch wickeln. Ich habe ihm

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