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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Motel zu gehen und dort das Kind zur Welt zu bringen. Allein, ohne Arzt.
James sagte, er würde darauf achten, daß wir nicht mehr als fünf Minuten von
einem Krankenhaus entfernt wären, für den Fall, daß es doch Probleme geben
sollte. Aber er sehe nicht ein, warum wir es riskieren sollten, wenn es keine
gebe.«
    Mein Vater antwortet mit einem Laut des Abscheus.
    Â»Sie haben schon recht«, fährt Charlotte fort, »wahrscheinlich habe
ich Vater, Mutter, Kind gespielt. Ich habe mir eingeredet, daß James und ich
heiraten und mit dem Kind in seiner Wohnung zusammenleben würden. Er würde sein
Medizinstudium anfangen, und alles wäre ganz wunderbar. Daß es ein Geheimnis
war, machte es nur … es ließ es nur um so romantischer erscheinen.«
    Ich sehe meinen Vater vor mir, wie er den Kopf schüttelt.
    Â»Und was immer auch danach geschah«, fährt Charlotte mit einem
Zittern in der Stimme fort, »oder von jetzt an geschehen wird …« Sie holt
Atem, bemüht, sich zusammenzunehmen. »Für mich wird es immer eine schöne
Erinnerung sein. Die Zeit mit ihr. Mit der Kleinen. Weil ich sie in mir
getragen habe und mit ihr gesprochen habe und …«
    Ein Papiertuch wird abgerissen.
    Â»Entschuldigen Sie«, sagt Charlotte.
    Â»Hier, nehmen Sie das«, sagt mein Vater.
    Charlotte schneuzt sich. »Danke.«
    Â»Woher kommt er?« Dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen, lehnt
mein Vater jetzt wieder an der Arbeitsplatte in der Ecke.
    Â»Sie werden nicht …?« 
    Â»Das habe ich Ihnen doch gesagt.«
    Â»Sein Vater ist Arzt. Sie wohnen außerhalb von Boston. Ich habe sie
nie kennengelernt.«
    Â»Er wollte nicht, daß seine Eltern davon erfahren.«
    Â»Davor hatte er die meiste Angst.«
    Â»Wie wollte er Sie und das Kind erklären? Ich meine früher oder
später.«
    Â»Ich weiß nicht«, sagt sie.
    Mein Vater räuspert sich. »Wollen Sie versuchen, Ihr Kind
zurückzuholen?«
    Â»Ein Teil von mir würde das gern tun«, antwortet Charlotte.
    Â»Können Sie denn für sie sorgen?«
    Â»Nein.«
    Â»Ich kenne mich mit den Gesetzen nicht so gut aus«, sagt mein Vater.
»Ich weiß nicht, ob man Ihnen das Kind anvertrauen würde. Selbst wenn die Sache
gerichtlich geregelt werden sollte.«
    Â»Als ich mit ihr schwanger war, habe ich sie mir so sehr gewünscht.«
    Â»Charlotte«, sagt mein Vater leise. Zum erstenmal spricht er ihren
Namen aus, und es erschüttert mich. »Sie haben Ihr ganzes Leben vor sich. Nein,
wenden Sie sich nicht ab. Hören Sie mir zu. Ganz gleich, wie Sie sich
entscheiden, es wird Konsequenzen haben. Schwere Konsequenzen. Und Sie werden
den Rest Ihres Leben damit leben müssen. Aber denken Sie zuerst. Denken Sie an die Kleine, denken Sie darüber nach, was für sie das
Beste ist. Vielleicht sollten Sie um sie kämpfen, ich kann es Ihnen nicht
sagen. Nur Sie selbst können diese Frage beantworten.«
    Â»Sie haben doch selbst ein Kind verloren«, sagt Charlotte mit etwas
wie Schärfe.
    Nach ihren Worten entsteht eine Spannung, die sogar ich draußen im
Flur spüre. Ich warte auf das Geräusch von Schritten, darauf, daß mein Vater
den Raum verläßt.
    Â»Es tut mir leid«, sagt Charlotte sofort. »Das hätte ich nicht sagen
sollen.«
    Â»Es war etwas anderes«, sagt mein Vater.
    Â»Wirklich, es tut mir leid«, sagt Charlotte.
    Â»Etwas ganz, ganz anderes.«
    Â»Ich weiß«, sagt Charlotte. »Ich weiß. Sie hatten keine Schuld. Sie
haben nichts getan. Es ist Ihnen widerfahren.«
    Â»Sie wissen von dem Unfall«, sagt mein Vater.
    Â»Ja. Nicky hat es mir erzählt.«
    Â»Aha.«
    Â»Nur die Tatsache, daß er geschehen ist.«
    Oben knarrt etwas. Holz, das arbeitet, hat mir mein Vater einmal
erklärt. Selbst nach hundertfünfzig Jahren arbeitet das Holz noch.
    Â»Vielleicht sollten Sie die jetzt runtertun«, sagt mein Vater.
    Â»Ich möchte Ihnen erzählen, was in dem Motelzimmer passiert ist«,
sagt Charlotte.
    Â»Ich will es nicht wissen.«
    Â»Bitte«, sagt sie. »Ich möchte, daß Sie es wissen.«
    Â»Warum?«
    Â»Ich weiß nicht. Sie haben sie gefunden.«
    Â»Schläft Nicky?« fragt mein Vater.
    Â»Sie hat geschnarcht, als ich aufgestanden bin.«
    Mein Kopf zuckt in die Höhe. Ich schnarche?
    Â»James und ich sind lange

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