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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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des
versuchten Mordes anklagen würde, wenn ich zur Polizei ginge. Ich hatte Angst.
Also sagte ich mir, na ja, jetzt ist ja alles in Ordnung. Sie lebt, und es wird
sich jemand um sie kümmern. Ich hätte sowieso nicht für sie sorgen können. Ich
hatte kein Geld. Ich wußte, daß ich aus James’ Wohnung ausziehen mußte. Und zu
meinen Eltern konnte ich mit einem Baby nicht zurück. Also war es doch am
besten so, dachte ich mir.«
    Mein Vater sagt nichts.
    Â»Ich habe James bei sich zu Hause angerufen«, fügt Charlotte hinzu.
»Er war nicht da. Seine Mutter sagte, er sei mit Freunden beim Skilaufen.«
    Â»Beim Skilaufen?« fragt mein Vater ungläubig.
    Â»Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich konnte nur auflegen.«
    Â»Unglaublich«, sagt mein Vater.
    Â»Eine Woche lang habe ich nur im Bett gelegen«, fährt Charlotte
fort. »Ich habe kaum etwas gegessen. Ich war einfach todmüde. Irgendwann bin
ich dann aufgestanden und zur Bibliothek gefahren und habe sämtliche Zeitungen
der vergangenen Tage durchgesehen, bis ich auf einen Artikel stieß, in dem Ihr
Name genannt wurde.« Sie hält inne. »Und dann bin ich hergefahren.«
    Â»Warum?«
    Â»Ich mußte Sie sehen.«
    Â»Ich verstehe nicht.«
    Â»Was wäre mein Leben denn wert, wenn ich Ihnen nicht danken würde?«
sagt Charlotte.
    Ihre ungewöhnliche Frage – beinahe erstaunlicher als ihre Beichte,
beinahe erstaunlicher als ihre schreckliche Geschichte – schwebt durch die
Küche in den Flur hinaus. In meinem linken Ohr beginnt etwas zu pochen.
    Â»Und jetzt gehe ich besser wieder zu Bett«, sagt Charlotte. Ich höre
es rascheln, höre einen leichten Stoß gegen den Küchenschrank. »Mein Bein ist
eingeschlafen.«
    Â»Schütteln Sie es.«
    Â»Es muß schwer für Sie sein, sich das anzuhören«, sagt Charlotte.
    Â»Es wäre für jeden schwer, sich so eine Geschichte anzuhören«,
erwidert mein Vater.
    Â»Es tut mir wirklich leid, was ich vorhin gesagt habe. Über das
verlorene Kind.«
    Â»Ist schon gut«, sagt mein Vater.
    Â»Andauernd denke ich, ich hätte ihn daran hindern können«, sagt
Charlotte.
    Plötzlich gibt es eine Explosion, lautlos. Ich drücke die Hand auf
die Augen, vorübergehend vom Licht geblendet. Unser Haus beginnt zu summen.
    Â»Oh!« sagt Charlotte verblüfft.
    Â»Der Strom ist wieder da«, erklärt mein Vater. Er scheint selbst ein
wenig verblüfft.
    Ich blinzle in das allzu helle Licht. Der Holzfußboden glänzt, und
die weißgestrichene Wand blendet. Ich würde am liebsten die Augen schließen.
Die Welt ist grell und häßlich, und ich hasse sie.
    Ich robbe ins Wohnzimmer und krieche in meinen Schlafsack. Als
Charlotte hereinkommt, richte ich mich auf. »Was ist los?« frage ich, sie
anblinzelnd.
    Â»Wir haben wieder Strom«, sagt sie. Das Innere ihrer Hände ist
knallrot. Ihre Nase ist rot und geschwollen, und ihre Stimme klingt erstickt.
    Â»Komisch«, sage ich.
    Â»Es ist mitten in der Nacht«, sagt sie. »Soll ich das Licht
ausmachen, damit du weiterschlafen kannst?«
    Â»Wo waren Sie?«
    Â»Ich war draußen, um mir ein Glas Milch zu holen.«
    Â»Was ist mit Ihren Händen passiert?«
    Â»Ich bin über deinen Vater gestolpert«, erklärt sie. Dann macht sie
das Licht aus und kriecht in den Schlafsack neben mir.
    Ich rutsche tiefer in meinen und halte die Hand auf meine Brust
gedrückt, damit mir das Herz nicht herausspringt. Ich denke über alles nach,
was Charlotte meinem Vater erzählt hat – das Blut im Schnee; Charlottes
Ohnmachten; den Moment, als sie erkannte, daß James das Baby zum Sterben
ausgesetzt hatte. Das ist alles viel zu schrecklich, einfach grauenhaft. Ich
bedecke mein Gesicht mit den Händen.
    Und dann muß ich daran denken, wie mein Vater und ich von New York
aus nach Norden gefahren sind und uns in einem Dorf namens Shepherd
niedergelassen haben. Charlotte und James fuhren von Burlington aus nach Süden
und fanden zufällig ein Motel in Shepherd. Unsere Wege kreuzten sich an einem
Ort im Wald. Aber was wäre geschehen, wenn es meinem Vater und mir am zweiten
Tag unserer Fahrt gelungen wäre, das Gewirr von Straßenschleifen und Kreuzungen
bei White River Junction zu entschlüsseln und wir dann wie geplant weiter in
nördlicher Richtung gefahren wären? Was, wenn mein Vater

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