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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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dich dasein . «
    Mein Vater wendet sich wieder ab. Ein weißes Rauschen überschwemmt
mich. Mit bewußt langsamen Bewegungen zieht er seine Stiefel wieder an und
nimmt seine Jacke. Und ist mit drei Schritten zur Tür hinaus.
    Ich lasse mich auf die Bank fallen, schwindlig und außer Atem.
    Ich werde meinem Vater nicht nachlaufen, nehme ich mir vor.
    Die Sonne scheint durch das Fenster des hinteren Flurs. Es ist warm
geworden in ihrem Licht. Meine Socken sind an der Sohle patschnaß, und ich
ziehe sie aus.
    Ich werde mich nicht entschuldigen.
    Ich hebe die Perlenschnur vom Boden auf und ziehe mich am Geländer
die Treppe rauf, als wäre ich zwei Zentner schwer. Ich gehe in mein Zimmer und
strecke mich auf dem Bett aus.
    Ich habe Magenschmerzen. Ich habe zu viele Pfannkuchen gegessen. Ich
drehe mich auf die Seite und drücke die Hände auf den Bauch. Wo, denke ich
plötzlich, bleibt eigentlich der angekündigte Polizeibeamte? Wird man meinen
Vater und mich verhaften? Ich versuche, mir das vorzustellen. Wie mein Vater
und ich in Handschellen zu einem Streifenwagen geführt werden. Wie er und ich
Seite an Seite mit gefesselten Händen dasitzen. Es ist zu abwegig, um in
Betracht gezogen zu werden. Was würden wir zueinander sagen? Dann käme die
Fahrt zur Polizeidienststelle. Warren würde uns mit einem höhnischen Grinsen im
Gesicht erwarten. Er hat ja gesiegt. Dann würde man meinen Vater und mich
voneinander trennen, und eine Wärterin, die aussähe wie Mrs. Dean, meine
Lehrerin, dick und rund, würde mich in eine Gefängniszelle bringen. Und
Charlotte, wäre die in einer Zelle in meiner Nähe? Würden wir miteinander
sprechen dürfen? Oder würden wir uns einen Code ausdenken und uns mit
Klopfzeichen verständigen? Ach, warum, warum habe ich nur so viele Pfannkuchen
gegessen? Solche Bauchkrämpfe hatte ich noch nie.
    Ich denke an meinen Vater, allein in der Scheune. Ist er wütend, so
wütend, daß er mit den Füßen gegen die Holzteile tritt und sein Werkzeug auf
den Arbeitstisch knallt? Oder ist es schlimmer? Sitzt er in gewohnter Haltung
auf seinem Stuhl und starrt in den Schnee hinaus? Wenn ich nicht so
fürchterliches Bauchweh hätte, würde ich jetzt wohl doch zu ihm hinausgehen.
Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken würde, aber ich würde versuchen, ihm zu
sagen, daß ich weiß, daß er sein Bestes getan hat. Daß ich nicht immer nur
Theater spiele. Daß ich mich eigentlich die meiste Zeit ganz gut fühle.
    Ich stehe auf, um ins Bad zu gehen. Nie wieder werde ich so viele
Pfannkuchen essen. Das wird mein Vorsatz fürs neue Jahr sein: nie wieder
Pfannkuchen! Vor dem Waschbecken bleibe ich stehen und mustere mich im Spiegel
darüber. Mein Gesicht ist blaß, ich sehe krank aus. Ich versuche zu lächeln,
aber es wird nicht besser. Ich wende mich vom Spiegel ab, mache meine Jeans auf
und setze mich auf die Toilette.
    Mit einem Ruck reiße ich den Kopf in die Höhe. Ist es möglich?
    Noch einmal schaue ich mir den Schlüpfer an.
    Es ist nur ein ganz kleiner Fleck, aber es ist unverkennbar Blut.
    Vielleicht ist es nur Zufall. Oder vielleicht ist es durch den
Streit gekommen. Wahrscheinlich aber war es einfach an der Zeit. Aber in diesen
ersten verwirrenden und aufregenden Momenten ist es schwer, es nicht als etwas
zu sehen, was Charlotte mir zurückgelassen hat. Ich muß an meine Mutter denken,
und es gibt mir einen Stich, aber diejenige, der ich es am dringendsten sagen
möchte, ist Charlotte.
    Ich werde es meiner Großmutter erzählen, wenn sie kommt. Sie wird
vielleicht weinen. Und ich erzähle es Jo am zweiten Weihnachtstag, wenn wir zum
Skilaufen fahren. Ich stelle mir vor, wie sie quietschen wird. Schritt für
Schritt werde ich es auch andere wissen lassen, oder Jo wird es tun. Mein Vater
wird die Kotexpackung im Bad sehen und glauben, Charlotte hätte sie vergessen.
Er wird sie in den Schrank legen. Ich werde sie wieder herausnehmen und auf die
Ablage über dem Waschbecken legen. Mit der Zeit wird er merken, was los ist,
ohne daß ich je ein Wort zu sagen brauche. Ich denke darüber nach, ob es einen
Moment geben wird, wo er mich mit anderen Augen ansieht, und wenn ja, ob ich es
merken werde. Ich hoffe, es wird ihn nicht traurig machen, traurig, daß meine
Mutter diesen großen Augenblick in meinem Leben nicht erleben kann.
    Ich habe genug von Traurigkeit.
    Ich habe

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