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Stille über dem Schnee

Stille über dem Schnee

Titel: Stille über dem Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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gehabt, die Polizei zu informieren;
es sei unsere Pflicht gewesen. Er hat uns das ja praktisch schon vorher gesagt.
Und da wir es nicht getan haben, wird man uns als schuldig betrachten.
    Â»Hast du Angst?« frage ich.
    Mein Vater schaut mich kurz an, dann richtet er den Blick wieder auf
die Straße. »Du bist ein mutiges Mädchen«, sagt er. »Wie deine Mutter.«
    Mir springen Tränen in die Augen. Ich presse meine Hände zusammen,
bis die Knöchel ganz weiß sind. Ich werde nicht weinen, sage ich mir immer
wieder.
    Als wir die Außenbezirke der Stadt erreichen, fahren wir vom Highway
ab und suchen die Straße, in der die Polizeidienststelle ist. An der Ecke
kommen wir an dem Haus vorbei, in dem die Verwaltung der Nationalgarde
untergebracht ist, dann am Verkehrsministerium und am Gericht. Mein Vater biegt
rechts ab und fährt auf einen Parkplatz hinter einem weitläufigen modernen
Gebäude, das mich an meine High-School erinnert.
    Â»Ich gehe mit dir rein«, sage ich. Noch ehe mein Vater angehalten
hat, stoße ich die Tür auf, bereit, beim kleinsten Zögern in seiner Stimme
hinauszuspringen.
    Â»Ja, hier draußen frierst du dich höchstens zu Tode«, räumt er ein.
Er hat eine braune Wollmütze auf. Warren wird denken, dieser Mann rasiert sich
nie. Die Flecken auf seinem Parka – diesem formlosen beigefarbenen Ding, an das
ich mich so sehr gewöhnt habe, daß es mir kaum noch auffällt – sind im
gleißenden Sonnenlicht deutlich zu erkennen.
    Auf einem schneefreien Fußweg folge ich ihm zum Haus, und wir gehen
hinein.
    Mein Vater runzelt die Stirn. Wir scheinen bei der Verkehrspolizei
gelandet zu sein. Er prüft die Adresse, die er sich auf einem Zettel notiert
hat. Er fragt einen Beamten, wo Detective Warren sein Büro hat. »Nehmen Sie den
Aufzug«, erklärt der Mann. »Dritter Stock.«
    Wir nehmen den Aufzug. Der Boden ist naß, und es riecht nach
Zigaretten. Im dritten Stock finden wir nur Korridore mit blanken Böden und
eine Reihe Holztüren. Mein Vater öffnet eine und fragt nach Detective Warren.
    Â»Oh«, sagt eine junge Frau. »Da müssen Sie ins Souterrain.«
    Mein Vater schaut sie verwundert an.
    Â»Eine Sekunde«, sagt sie. »Ich bringe Sie runter.«
    Die Frau hat einen Rolli an, einen Wollrock und schwarze Stiefel. »Das
war vielleicht ein Schneesturm«, sagt sie im Aufzug.
    Im Souterrain steigt sie vor uns aus, hält uns die Tür auf und zeigt
einen Korridor hinunter. »Die Vernehmungsräume sind da hinten. Dort ist
wahrscheinlich auch Detective Warren. Sie können da allerdings nicht hinein,
aber gleich hier drüben ist eine Cafeteria. Wenn Sie jemanden bitten, wird man
Detective Warren Bescheid sagen, daß Sie hier sind.«
    Â»Danke«, sagt mein Vater.
    Die Cafeteria hat Backsteinwände und Neonlicht. Die meisten weißen
Resopaltische sind frei. Mein Vater deutet auf einen schwarzen Kunststoffstuhl.
»Warte hier auf mich«, sagt er.
    Er geht zu einem Mann in Uniform, der an einem der Tische sitzt, und
fragt nach Detective Warren. Er nennt seinen Namen, Robert Dillon. Ich finde es
immer irgendwie aufregend, wenn ich das höre, es erinnert mich daran, daß er
außer meinem Vater oder Dad noch jemand anders ist. Der Mann in Uniform bittet
ihn zu warten.
    Mein Vater kehrt an unseren Tisch zurück und setzt sich mir
gegenüber. Am Nebentisch sitzen ein Mann und eine Frau mittleren Alters dicht
beieinander und sprechen leise in verschlüsselten Worten miteinander. Die Frau
sagt: »Das dritte Mal«, und einen Augenblick später sagt der Mann: »Erst
achtzehn.« Dann sagt die Frau: »Aber wie soll das …?«, und der Mann sagt:
»Zu Fuß.«
    An der Tür steht plötzlich Detective Warren.
    Â»Dad«, sage ich.
    Mein Vater steht auf. »Ich bin gleich wieder da«, sagt er. »Hier
hast du Geld. Da drüben sind Automaten. Du kannst dir auch ein Sandwich holen.«
    Ich sehe zu, wie mein Vater an dem Kriminalbeamten vorübergeht.
Warrens Blick ist fest, sein Mund unbewegt. Er verrät durch nichts, daß er
meinen Vater kennt. Kurz bevor er sich herumdreht, um ihm zu folgen, wirft er
mir einen kurzen Blick zu. Er lächelt nicht.
    Ich weiß nicht, was in dem kleinen Raum gesprochen wird, in den
Warren meinen Vater führt. Ich bin ja nicht dabei. Später kann ich mir aus
Teilen des Gesprächs, die mein Vater

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