Stille über dem Schnee
nicht gesehen, daà Charlotte die Kotexpackung mitgenommen
hat. Ich suche im Badezimmerschränkchen, finde ausgedrückte Zahnpastatuben und
Seifenreste, aber kein Kotex. Ich gehe ins Gästezimmer und mache den Schrank
auf. Da liegt die Packung, auf dem oberen Bord, halb versteckt hinter einer
Wolldecke mit Satineinfassung. Ich hole sie herunter, nehme sie mit ins Bad und
komme trotz meiner Ahnungslosigkeit ziemlich mühelos dahinter, wie man so eine
Binde befestigt.
Wieder schaue ich in den Spiegel. Ich bin jetzt
eine Frau , sage ich probeweise zu meinem Spiegelbild.
Blödsinn! Ich bin ein zwölfjähriges Mädchen, das auf die Ankunft
eines Polizisten wartet, der sie verhaften wird. Ich habe immer noch Bauchweh,
aber die GewiÃheit, daà ich mich nicht übergeben muÃ, macht die Schmerzen
erträglich. Ich versuche, mich zu erinnern, was Jo immer nimmt, wenn sie in der
Schule Krämpfe hat. Im Apothekerschränkchen finde ich eine Packung Motrin und
schlucke zwei Tabletten.
Ich höre ein Geräusch, das ich überall erkennen würde. Ich weiÃ, daÃ
ich nur sechzig Sekunden habe, um es auf den Beifahrersitz zu schaffen, so
lange läÃt mein Vater den Laster immer warmlaufen. Ich stürze aus dem Bad und
springe in Riesensätzen die Treppe hinunter. Ich schiebe einen Arm in den Ãrmel
meiner Jacke und fahre mit den FüÃen in die Stiefel. An einem Arm die
herabhängende Jacke, schlurfe ich, die Bänder der ungeschnürten Stiefel hinter
mir herschleifend, so schnell ich kann, zum Wagen. Ich reiÃe die Tür auf und
klettere hinauf. Mein Vater wirft mir nur einen Blick zu, dann legt er den Gang
ein.
»Ich habe eben meine Periode bekommen«, sage ich.
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 UM DEN HIGHWAY ZU ERREICHEN , der in
südlicher Richtung nach Concord führt, müssen mein Vater und ich durch den Ort
fahren. Es sind nur wenige Autos unterwegs, die meisten Leute wagen sich nicht
auf die glatten StraÃen, auch wenn sie gepflügt sind. Es ist der Heilige Abend,
und an allen Geschäften und vielen Häusern brennt die Weihnachtsbeleuchtung.
Aber sie kommt nicht gegen den hellen Sonnenschein an. Ich kneife die Augen
gegen das grelle Licht zusammen.
»Alles
in Ordnung?« fragt mein Vater.
»Alles wunderbar«, sage ich und schiebe meine FüÃe richtig in die
Stiefel hinein.
»Müssen wir irgendwas für dich besorgen?«
»Nein, ich habe alles«, sage ich schnell.
Ich kann beinahe spüren, wie mein Vater nach den Worten sucht, die
man in so einer Situation zu seiner Tochter sagt. In der letzten Stunde habe
ich ihn beschimpft, ich habe ihn traurig gemacht, ich habe ihn bestraft, und
ich habe ihn wütend gemacht. Und jetzt habe ich ihn, ganz ohne Rücksicht und
ohne ihn irgendwie darauf vorzubereiten, mit dieser bestürzenden Neuigkeit
konfrontiert. Er ist sprachlos.
»Glaubst du, er wird mit dir reden?« frage ich, als wir auf die
Route 89 fahren.
»Ich denke schon«, sagt mein Vater.
»Kommt sie ins Gefängnis?« frage ich weiter.
»Wenn sie verurteilt wird, kommt sie wahrscheinlich ins Gefängnis,
ja.«
»Und weswegen?«
»Das weià ich auch nicht so genau. Kindesaussetzung. Gefährdung des
Kindeswohls?«
Er sagt nicht, versuchter Mord .
»Es ist alles schlimm«, sage ich.
»Ja, es ist alles schlimm«, stimmt er mir zu.
Er fährt langsam, angespannter als sonst. Auf dem Highway ist nur
eine Spur befahrbar, im Schatten ist sie eisig, in der Sonne matschig. Auf der
anderen Seite, in nördlicher Richtung, gerät ein Wagen ins Schleudern und
rutscht auf den Mittelstreifen. Hinter ihm steigt eine Wolke glitzernder
Kristalle auf, die der Wind davonträgt.
Ãngstlich und aufgeregt rutsche ich auf meinem Sitz nach vorn. Wird
Charlotte noch auf der Dienststelle sein, oder wird man sie schon woanders
hingebracht haben? Ich sitze vorgebeugt, die Hände in den Taschen. Die Heizung
in unserem Laster ist ein Witz.
Neben uns bilden die Schneemassen meterhohe Wälle. Autos stecken in
Schneeverwehungen fest. Die Kiefern stehen schwer beladen zur Erde geneigt.
Wenn der Schnee schmilzt oder bricht, werden die Ãste, von ihrer Last befreit,
einer nach dem anderen aufwärts schnellen.
»Werden wir jetzt verhaftet?« frage ich.
»Ich weià es nicht.«
Wir haben eine Straftäterin in unserem Haus beherbergt. Warren wird
behaupten, wir hätten reichlich Gelegenheit
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