Stille über dem Schnee
Papierserviette gebe. »Ich bin froh, daà ich hergekommen bin.«
»Aber ich will, daà Sie hier bei uns wohnen«, erkläre ich hilflos.
»Das geht nicht«, entgegnet sie. »Das weiÃt du doch.« Sie klopft mit
einem Finger an ihre Zähne. »Wann kommt die Spange runter?«
»Im April.«
»Du wirst toll aussehen«, sagt sie lächelnd.
Ich höre Motorengeräusch. Mein Vater fährt Charlottes Wagen vor.
Dampf steigt von dem blauen Auto auf.
»Ich hasse Abschiede«, sage ich. »Warum gehen alle immer von mir
fort?«
Mein Vater tritt ins Haus, stampft mit den Stiefeln auf die Matte.
Ich sehe ihn nicht an.
»Danke für alles«, sagt Charlotte.
»Fahren Sie am Hang vorsichtig«, sagt mein Vater. »Es ist zwar
gepflügt, aber es ist sicher glatt. Und fahren Sie langsam auf den StraÃen.«
Charlotte gibt ihm die Hand.
»Also dann«, sagt mein Vater.
Charlotte legt den Kopf ein wenig schräg. Ich grapsche nach ihrem
Arm. Sie läÃt sich von mir umarmen. Unter der Polsterung ihrer Jacke spüre ich
ihren Körper. Ich nehme ihren Geruch war. Charlotte macht sich von mir los, und
dann ist sie fort.
Ich laufe zum Fenster und drücke mein Gesicht an die Scheibe.
Charlotte geht zu ihrem Auto. Sie öffnet die Tür und steigt ein.
»Das ist doch alles ganz falsch!« rufe ich weinend.
Charlotte bleibt einen Moment im Auto sitzen. Vielleicht stellt sie
die Heizung ein oder das Radio. Vielleicht zieht sie ihre Handschuhe über. Mir
fällt plötzlich die Kette mit den blauen Perlen ein, die sie am vergangenen
Abend gemacht hat. Ich muà sie ihr mitgeben; sie weià nicht mal, daà ich sie
für sie fertiggemacht habe.
Ich finde sie in der Perlenschachtel im Wohnzimmer. Durchs Fenster
sehe ich das blaue Auto langsam anfahren, als wollte Charlotte prüfen, wie
griffig die schneebedeckte Fahrbahn ist. Ich stürme zur Hintertür und reiÃe sie
auf. »Warten Sie!« rufe ich ihr nach.
Auf Strümpfen renne ich die Auffahrt hinunter. Ich halte die Kette
hoch und hoffe, daà sie mich im Rückspiegel sieht. »Halt!« schreie ich.
»Charlotte, halten Sie an!«
In der Mitte der FahrstraÃe hat Harry bis auf das darunterliegende
Eis gepflügt. Als ich diese eisglatte Stelle erreiche, gerate ich auf meinen
Strümpfen ins Rutschen und versuche, wild um mich schlagend, auf den Beinen zu
bleiben. Die Rutschpartie kommt da zu einem unvermittelten Ende, wo die
Schneedecke wieder beginnt, und ich taumele stolpernd drei oder vier
Riesenschritte vorwärts, ehe ich mich fange.
Als ich aufschaue, hat sich das blaue Auto vom Haus entfernt â zu
weit schon, als daà ich es noch einholen könnte.
Zwischen den Bäumen, dort, wo die FahrstraÃe eine Biegung macht,
kann ich einen roten Schimmer erkennen. Ich beobachte, wie ein Mann auf die
Mitte der StraÃe hinaustritt. Ich sehe Bremslichter aufleuchten, als Charlotte
ihren Wagen anhält.
Â
 AM MORGEN DES TAGES , an dem
der Unfall sich ereignete, packte ich einen blauen Nylonrucksack für meine
Ãbernachtung bei Tara. Ich hatte auÃerdem ein kleines Plastiktäschchen mit
einer zusammengeklappten Zahnbürste, einer kleinen Tube Zahnpasta, einem Kamm,
einem Lidschatten und einem Paar Socken. Das hatte ich mal bei einem Flug mit
Delta Airlines bekommen. Obwohl ich in dem Herbst schon häufiger bei Freundinnen
übernachtet hatte, war das Täschchen noch unbenutzt. Diesmal beschloà ich in
einer Anwandlung von Extravaganz, es einzuweihen.
Ich
zog einen pinkfarbenen Cordoverall und ein lila T -Shirt
an. Als ich nach unten kam, saà meine Mutter am Küchentisch. Sie hatte einen
abgetragenen alten Bademantel an, der nach Mum roch, auch wenn sie nicht darin
steckte. Auf der Schulter waren undefinierbare Flecken, die ich hauptsächlich
Clara zuschrieb. Meine Mutter hatte verschmierte Wimperntusche um die Augen,
und ihr Haar war auf einer Seite plattgelegen. Unter dem Bademantel trug sie
ein blaÃblaues Nylonnachthemd und dicke weiÃe Socken, die unten an der Sohle
schmutzig waren. Clara schlief offenbar noch.
Eine Schale, ein Löffel, ein Glas Saft und eine Vitamintablette
warteten auf meinem Platz am Tisch. Ich kippte Cheerios in die Schale.
»Hast du alles gepackt?« fragte meine Mutter.
»Ja.«
»Vergià nicht, dich zu bedanken.«
»Mum, ich bin noch nicht mal dort.«
»Trotzdem«,
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