Stille über dem Schnee
»kommt sie ins
Gefängnis. Sie wird ihr Baby nie zurückbekommen.«
»Ach, geht es darum?« fragt mein Vater, während er seine Stiefel
auszieht.
»Nein«, antworte ich, »es geht darum, Charlotte zu retten.«
Vage bin ich mir einer übertriebenen Dramatik bewuÃt, einer Sprache,
wie mein Vater und ich sie nie gebrauchen. »Man muà tun, was recht ist«, sage
ich ruhig. »Das muà man einfach.«
»Nichts, was ich sagen könnte, wird irgend etwas ändern.«
Ich sehe hinunter zu der Perlenschnur in meiner Hand. Ich schleudere
sie mit aller Kraft nach ihm.
Sie trifft ihn am Kinn. An der Art, wie er sich mit der Hand an die
Wange faÃt, kann ich erkennen, daà es weh getan hat.
»Nicky«, sagt er mehr verwirrt als verärgert.
»Charlotte hat die gemacht«, sage ich. »Nun wird sie sie nie
bekommen. Also kannst du sie haben.«
Mein Vater macht einen Schritt auf mich zu, aber ich weiche nicht zurück.
Er zieht die Hand von seiner Wange. An der Stelle, wo die Perlenkette sie
getroffen hat, ist ein roter Fleck. »Geh in dein Zimmer«, sagt er.
»Nein.«
»Das reicht.« Seine Stimme ist jetzt strenger.
»Ich gehe aber nicht in mein Zimmer«, sage ich, »und du kannst mich
nicht dazu zwingen.«
Es ist wahr. Mein Vater kann mich nicht zwingen, in mein Zimmer zu
gehen. Die plötzliche Erkenntnis ist befreiend und beängstigend zugleich.
»Du bist einfach nur schwach, weiÃt du das?« Ich stemme die Hände in
die Hüften, während ich das sage. »Du hast Angst, zur Polizei zu gehen. Du
traust dich überhaupt nirgends hin. Du versteckst dich einfach vor der ganzen
Welt.«
»Nicky, nicht«, sagt er.
»Du ziehst dich aus der Welt zurück wie ein Feigling.« Eine Art
erregender Angst hat mich gepackt. Nie habe ich so mit meinem Vater gesprochen.
»Das hat Gründe«, sagt er.
»Ach, wirklich?« frage ich. »Also, nur für den Fall, daà es dich
interessiert, ich habe auch meine Mutter und meine Schwester verloren.«
Mein Vater macht kurz die Augen zu. Ich warte darauf, daà sein
Gesicht sich auf diese furchtbare Art, die ich kenne, vor mir verschlieÃt â daÃ
die Augen leer werden, von Bildern der Vergangenheit besetzt. Eine Zeitlang
spricht keiner von uns beiden.
»Das weià ich«, sagt er dann.
»Du führst kein normales Leben, Dad.«
»Ich tue mein Bestes.«
Ich schiebe mein Gesicht näher an seins. »Aber mein Leben ist nicht normal«, sage ich. »Was glaubst du wohl, wie ich mich fühle?
Nie besucht mich jemand. Kein Fernsehen. Wir unternehmen nie irgendwas. Du
gehst nicht ans Telefon. Die ersten sechs Monate hatten wir nicht mal Telefon, weil du mit niemandem reden wolltest. Und kannst du mir
vielleicht sagen, warum du diesem Mann, diesem Steve, eine falsche Nummer
gegeben hast? Weil du nicht wolltest, daà er dich anruft. Das ist krank, Dad.
Einfach krank.«
»Du willst zuviel«, sagt er.
»Ich will nur mein Leben zurückhaben. Ist das zuviel verlangt?« Ich
will nicht weinen â Tränen ruinieren jedes Argument â, aber ich kann nichts
dagegen tun.
»Du kannst dein altes Leben nicht wiederhaben«, sagt er.
Ich bin zu weit gegangen, ich weià es, aber ich kann nicht aufhören.
»Ach, wenn ich wenigstens irgendein Leben haben
könnte«, entgegne ich.
Mein Vater wendet sich ab und schaut zum Fenster hinaus. Er legt
eine Hand an den Fensterrahmen, als müÃte er sich stützen. »Hundertmal habe ich
diesen Umzug bereut«, sagt er.
»Wir hätten in New York bleiben können.«
»Du warst noch klein, und ich dachte, du würdest rasch darüber
hinwegkommen.«
»So warâs aber nicht.«
»Ich dachte immer, es ginge dir ganz gut«, sagt er.
»Ich hab nur so getan«, sage ich. »Deinetwegen.«
Er dreht sich zu mir um. Ãberrascht jetzt. »Du hast nur so getan?«
fragt er. »Du hast die ganze Zeit nur gespielt?«
»Damit du nicht traurig bist«, sage ich. «Ich halte es nicht aus,
wenn du traurig bist.«
Mein Vater schweigt. Ich sehe ihm an, daà ich ihm weh getan habe.
»Versuchst du denn absichtlich, traurig zu bleiben?« frage ich.
»Weil du Mum und Clara nicht fortlassen willst?«
Mein Vater antwortet nicht.
»Weil nämlich, eins muà ich dir sagen, Dad«, fahre ich fort. »Ich kann nicht mehr nur für
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