Stille Wasser
Jägerin.
Niemand von ihnen verspürte Lust, sich auf den Heimweg zu machen. Einen Moment lang hatten sie mit dem Gedanken gespielt, gemeinsam hineinzugehen und eine Art Gruppen-Entspannungstherapie durchzuziehen, doch sie waren alle viel zu aufgekratzt, um wirklich relaxen zu können.
Schließlich hatte Buffy Giles angerufen, der ebenfalls ausgeruht genug schien, um wieder ein wenig Bewegung in die Dinge zu bringen.
Und nun saßen sie hier draußen in der Nacht, an einem Ort, an dem sich Merrows und Vampire für gewöhnlich ein Stelldichein gaben.
170
„Geht es nur mir so«, fragte Xander in die Stille, »oder kriegt ihr hier auch das kalte Grausen?«
»Ein bisschen«, gab Oz zu.
»Nein!«, sagte Willow. »Na gut, ein bisschen.«
Es lag wohl an der Dunkelheit, das war alles. An der Dunkelheit und an dem Umstand, dass hier irgendwo mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Vampire herumschlichen... Doch in etwa einer Stunde, in fünfundvierzig Minuten vielleicht, würde hier das grandiose Schauspiel eines ebenso prachtvollen wie vampirmörderischen Sonnenaufgangs stattfinden. Vorausgesetzt, die dicken Wolken hatten sich bis dahin verzogen. Willow warf einen letzten besorgten Blick in den Himmel, dann zuckte sie mit den Achseln. Wenn man jede Sekunde seines Lebens damit zubringen wollte, sich über Vampire Sorgen zu machen, konnte man sich auch gleich die Kugel geben. Und im Augenblick hatten sie ohnehin andere Probleme. Andere Monster, über die man sich Sorgen machen konnte.
»Hey.«
Alle drei machten vor Schreck einen Satz.
»Oh«, sagte Willow. »Hey, Angel.«
»Alles klar bei euch?«, fragte der Vampir.
»Ja, sicher«, murmelte Xander. »Wir warten nur darauf, dass Buffy und Giles endlich fertig werden mit ihren... ach, keine Ahnung, weiß der Kuckuck, was die da machen.«
Angel blickte zum Wasser hinunter, wo der Wächter und seine Jägerin irgendetwas zu besprechen schienen, und nickte.
»Haltet die Augen offen«, warnte er sie. »Ein paar Meilen von hier liegen einige ziemlich übel zugerichtete Merrows herum.
Hat vielleicht nichts zu bedeuten, aber...«
»Noch so einer, der einem echt Mut machen kann«, meinte Xander frustriert, als Angel zum Strand hinunterging, um mit Buffy und Giles zu reden. »Warum bringt uns nicht mal irgendwer ein paar gute Neuigkeiten?«
171
»Weil wir hier am Höllenschlund sind?«, schlug Oz vor.
»Gutes Argument.«
Ariel lag zusammengerollt zu Willows Füßen und schnarchte leise vor sich hin, ein wirklich niedliches Geräusch, fast wie ein leises Blubbern. Nicht einmal Angels plötzliches Erscheinen hatte sie aufwecken können.
Das Selkie war nach den Ereignissen der vergangenen Nacht völlig traumatisiert gewesen; instinktiv hatte Ariel die Merrows als das erkannt, was sie waren, und gewusst, dass sie Gefahr lief, gefressen zu werden. Und als Willow es endlich geschaffte hatte, sie dazu zu bewegen, den unnachgiebigen Griff ihrer Finger, mit dem sie sich in den Pullover der Rothaarigen hineingekrallt hatte, wieder zu lösen, waren sämtliche Lichter bei ihr ausgegangen. Nervöse Erschöpfung, hatte Giles es genannt.
Und er hatte Recht behalten: Wenige Stunden später war Ariel wieder aufgewacht, sichtlich erholt und zum Abmarsch bereit. Und nun lag sie da, als hätte der Kampf niemals stattgefunden. Tiere hatten ein ähnliches Verhalten; auch sie lebten für den Augenblick und scherten sich nicht um Dinge, die ihnen irgendwann vielleicht einmal widerfahren mochten.
Willow runzelte die Stirn. Aber Ariel war kein Tier. Oder etwa doch?
Wenn man am Höllenschlund lebte, war das eine durchaus berechtigte Frage. War Angel ein Mensch? Willow brauchte nicht lange darüber nachzudenken. Dämon oder nicht, Angel war ein Mensch und keine »Kreatur«. Es hatte etwas mit Mitgefühl zu tun, damit, wie weit man sich der Dinge, die man tat, bewusst war, ebenso wie der Folgen, die sie für andere Menschen hatten...
Ariel ist auch ein Mensch, entschied Willow. Ein kleiner zwar und ein wenig absonderlich vielleicht, aber auf jeden Fall ein Mensch. Und, was noch wichtiger war, sie war eine Freundin.
172
Als sie Ariel aus Giles’ Wagen herausgelassen hatten, war sie schnurstracks zum Ozean hinuntergerannt. Dann, ohne dass jemand hinter ihr hergerufen hätte, war sie plötzlich stehen geblieben, hatte sich, während sie unablässig an ihrem Seehundfell herumzupfte, die salzige Meeresbrise um die Nase wehen lassen und dabei so herzzerreißend traurig ausgesehen,
Weitere Kostenlose Bücher