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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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Die Grundregeln der Wirtschaft .
    »Sie müssen Lew sein«, sagte er. »Schön, dass Sie bei uns sind.«
    Ich nickte, ging ins Badezimmer, kam zurück und legte mich mit einer Ausgabe von Soul on Ice , die ich neben dem Klo entdeckt hatte, auf dem Bett lang.
    »Sie lesen viel, was?«, sagte er nach einer Weile.
    Ich senkte das Buch. »Konnte mir, was Bildung angeht, nicht viel leisten, und bei dem, was ich mir leisten konnte, konnte ich die meiste Zeit nicht stillsitzen. Seitdem versuch ich alles nachzuholen.«
    »Haben Sie Himes gelesen?«
    »Alles, was ich im Antiquariat auftreiben konnte.«
    »Hughes?«
    »Jedes Wort.«
    »Gibt nicht viele Leute, die lesen«, sagte er. »Ich heiße Jimmi. Jimmi Smith. Bin mal Lehrer gewesen. Mit Leib und Seele. Aber ich konnte die Finger nicht von den Kindern lassen.«
    »Mädels?«
    »Jungs. Stört Sie das?«
    »Nicht besonders. Chacun à son goût .«
    »Jetzt helfe ich in Kindertagesstätten aus, aber wir nehmen nur Mädchen, jedenfalls der Verein, bei dem ich bin, daher geht das klar.«
    »Gut so.«
    »Ja … haben Sie Familie, Lew?«
    Etwa in diesem Moment schaute Sansom vorbei und sagte: »Gut. Sie sind wieder da.«
    »Dank des Anwalts, den Sie mir geschickt haben. Woher haben Sie überhaupt Bescheid gewusst?«
    »Wir wissen über alles Bescheid, was hier in der Gegend passiert, manchmal sogar schon vorher . Aber ich muss Ihnen mitteilen, dass unser Anwalt derzeitig für uns geschäftlich unterwegs ist.«
    »Wer hat dann …?«
    »Ein Freund von Ihnen.«
    »Walsh.«
    »Das habe ich nicht gesagt. Aber offensichtlich war es, äh … ratsam, den Eindruck zu erwecken, dass der Anwalt von uns stammt. Gute Nacht, Jungs.«
    »Sie haben mich nach meiner Familie gefragt«, sagte ich nach einer Weile.
    »Ja.«
    »Warum?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Jimmi. »Weil ich so gut wie keine hatte, nehm ich an. Weil ich mich frage, wie das ist … ich hab eine Schwester.«
    »Nur ihr zwei?«
    »Ja.«
    »Wo ist sie?«
    »Ich weiß es nicht genau. Seit etwa einem Monat oder so kommen sämtliche Briefe zurück. Hab versucht, sie anzurufen, aber das Telefon ist abgemeldet. Ich kann bloß hoffen, dass mit ihr alles in Ordnung ist.«
    »Steht ihr zwei euch nah?«
    »Sie ist der einzige Mensch, den ich je geliebt habe. Der einzige, der mir nie Vorhaltungen gemacht hat«, sagte Jimmi.
    Danach schliefen wir, und am nächsten Morgen machte er keinerlei Anstalten, das Gespräch fortzusetzen. Carlos stand wortlos auf, nahm eine Viertelstunde lang das Badezimmer in Beschlag, zog sich an und brach auf. Ich ging in den Gemeinschaftsraum, trank Kaffee und schaute mir im Fernsehen die Morgennachrichten an, versuchte dahinterzukommen, was in den letzten Monaten gelaufen war. Wie alles zusammenpasste, wenn das denn der Fall war. Wenn das überhaupt möglich war.
    Die ersten Wochen im Krankenhaus waren am allerschlimmsten gewesen, als ich auftauchte und absoff, wieder hochgespült wurde und erneut unterging, kaum in meine Haut passte, unter der gefühlloses Zeug rumkrabbelte. Das einzig Gute an dieser Zeit war die Erinnerung an Vicky, wie sie mir geholfen hatte, das Ganze durchzustehen, an ihre wunderbar sanfte Stimme, und ich wollte ihr dafür danken. Wenigstens dachte ich das. Vermutlich wollte ich viel mehr, schon damals – wollen wir doch immer, nicht wahr?
    Bei der argwöhnischen Sekretärin in der Personalabteilung des Hotel Dieu kriegte ich nichts raus, und so ging ich schließlich hoch in die Cafeteria und trank noch mehr Kaffee. Ich fragte dort ein paar Schwestern nach ihr, aber die waren noch argwöhnischer. Wenn man viel unter anderen Leuten ist, kommt man sich vor, als ob einem ein Spiegel vorgehalten wird – mit einem Mal wird einem klar, dass man eindeutig schwarz ist.
    Ich trank zwei Tassen Zichorienkaffee, bestellte mir zur zweiten einen Toast, saß dann da und betrachtete die ganzen Gesichter. Menschen, die ihre Angehörigen verloren, gerade mitansehen mussten, wie sie dahinsiechten und starben; andere, die mit ihrem Besuch, mit Plaudereien und Bibelworten Trost spenden wollten; manche, die ungehalten waren, weil sie wegen einer kleinen, aber notwendigen Operation oder Untersuchung aus ihrem Alltagsleben gerissen wurden; jene, die sich um die Ungehaltenen und die Sterbenden gleichermaßen kümmerten. Und andere, die dabei halfen, wenn neues Leben auf gar nicht so sanfte Weise auf eine sehr alte, unsanfte Welt kam.
    Inzwischen war es fast Mittag. Ich hatte am Schalter bezahlt und wollte

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