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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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als wüsste sie, dass die beste Zeit ihres Lebens bereits vorüber ist«, sagte Vicky und blies den ganzen Abend lang Trübsal.
    Am nächsten Morgen schaute ich bei dem Kreditunternehmen vorbei, holte meine Auftragszettel ab, stellte fest, dass ich zwei säumigen Zahlern draußen in Metairie nachspüren musste, wo auch Cherie zuletzt gewohnt hatte, und fuhr dorthin.
    Die erste Spur führte mich zu einem Mietshaus, das an einen Karnickelbau erinnerte. Eine rotznäsige Halbwüchsige öffnete die Tür, soweit es die Vorlegekette zuließ, und sagte: »Yeah.«
    »Sind deine Eltern da, junge Dame?«
    »Nee. Vor elf, zwölf sin die nie daheim.«
    »Schwing gefälligst deinen süßen kleinen Hintern wieder hierher, LuAnne, und sag dem Arschloch da draußen, dass du beschäftigt bist«, ertönte von drinnen eine Stimme.
    »Weißt du vielleicht, wo ich sie auf der Arbeit erreichen kann?«
    Sie zuckte die Achseln.
    »Entschuldige bitte, LuAnne«, sagte ich und trat die Tür ein.
    Er saß auf der Couch, war Ende dreißig, Anfang vierzig und trug einen legeren Kammgarnanzug, dessen Hose ihm um die Knöchel hing.
    »Bleiben Sie ruhig sitzen«, sagte ich. »Sonst tret ich Ihnen in die Eier, dass Sie von hier bis Oklahoma hüpfen. Los, zieh deine Sachen an, Schätzchen«, sagte ich zu der Kleinen. »Wissen Sie, was Unzucht mit Minderjährigen ist, Mister? Für so was wird man sogar unter knallharten Knastbrüdern schief angesehn.«
    »Sind Sie ein Bulle, Mann?«
    »Sind Sie immer noch nicht weg?«
    »Sie haben doch gesagt, ich soll mich nicht rühren. Außerdem bin ich der Onkel von dem Mädchen.«
    Er stand von der Couch auf, und ich trat ihm in den Bauch. Er grunzte und fiel wieder zurück.
    »Das ist ein Kind , du Arschloch.«
    Nach einer Weile, sobald er wieder dazu fähig war, raffte er sich auf, zog seine Hose hoch und ging. Die Kleine schaute ihm mit Tränen in den Augen hinterher.
    »Die gibt’s in rauen Mengen«, sagte ich.
    »Ich hab ihn geliebt«, sagte sie.
    Die zweite Spur brachte genauso wenig – ein Laden für gebrauchte Bücher und Schallplatten unweit des Veterans Memorial Highway, in der Nähe des Causeway Boulevard. Er roch eigenartig, irgendwie muffig, so wie alle. Ein Mädchen um die zwanzig saß hinter dem Ladentisch und flocht Zöpfe in ihre glänzenden schwarzen Haare, die ihr ungeflochten bis zu den Knien reichen mussten.
    »Ich suche Frances Villon«, sagte ich.
    »Frances Villon?« Zögerlich.
    »Man hat mir diese Adresse genannt. Womöglich spreche ich’s falsch aus.« Ich buchstabierte es. »Sie hat bei uns ein Darlehen aufgenommen.«
    »Frances Villon.« Erst englisch ausgesprochen, dann auf Französisch. Sie wandte den Blick ab, schaute mich dann wieder an. »Ich hab’s – François Villon.«
    »Was?«
    »Man hat Sie reingelegt. François Villon ist ein französischer Dichter aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ich glaube nicht, dass der noch ein Darlehen braucht.
    ›François bin ich, gram drum dem Geschicke,
    Geboren in Paris, nah der Oisebrücke,
    Und wissen wird, am ellenlange Stricke,
    wie schwer mein Hintern wiegt, bald mein Genicke.‹
    Da hat sich jemand einen Witz erlaubt, was?«
    »Irgendeine Ahnung, wem so ein Witz zuzutrauen wäre?«
    »Eigentlich nicht, aber irgendwie passt das.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Villon war Dieb von Beruf.«
    Auf der Suche nach der Adresse, die ich von Cherie hatte, landete ich bei einer umgebauten Garagenwohnung hinter einem Holzlager. Sie war verlassen. Durch das Fenster auf der Vorderseite sah ich nur einen Sack voller Müll und ein paar Kehrichthaufen auf dem blanken Boden. Ich probierte die Tür. Sie war abgeschlossen.
    Als ich hintenrum ging, nach einer Hintertür oder einem weiteren Fenster Ausschau hielt, entdeckte ich eine andere, größere Garagenwohnung. Ein hochaufgeschossener, vornübergebeugter junger Mann mit langen, strähnigen Haaren kam gerade rückwärts aus der Tür.
    »Wollen Sie sich die Wohnung ansehen?«, sagte er.
    »Sind Sie der Makler?«
    »Ich mache bloß die Besichtigungen für die. Ich bin gerad auf dem Weg zur Vorlesung, aber ich habe noch ein paar Minuten Zeit, wenn Sie sich mal umsehen wollen. Was den Mietvertrag angeht, sollte es keine Einwände geben. Sie wissen schon …«
    Ich wusste es nur zu gut.
    »Ehrlich gesagt«, sagte ich, »suche ich eigentlich die frühere Mieterin.«
    »Sind Sie ein Cop?«
    »Seh ich etwa wie einer aus, mein Junge?«
    »Ihr Vater sind Sie bestimmt nicht.«
    »Ein Freund ihres Bruders. Er hat

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