Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
Vom Netzwerk:
sollst ihn anrufen.«
    »Hat er gesagt, worum’s geht?«
    »Nicht das Geringste. Aber die Nummer lautet fünf-zwo-vier-acht-fünf-neun-zwo. Zu jeder Tageszeit, hat er gesagt.«
    »Gut. Bis dann, Verne.«
    Ich hängte ein, holte einen weiteren Nickel raus und probierte es unter der Nummer. Eine rauchige Frauenstimme meldete sich. »Ja?«
    »William Sansom bitte.«
    »Mister Sansom ist derzeit leider außer Haus. Dürfte ich erfahren, wer ihn sprechen möchte?«
    Ich sagte es ihr.
    »Mir ou oder ew ?«, sagte sie. »Entschuldigen Sie, Sir … Mister Griffin. Tut mir leid, aber Mister Sansom ist doch noch da. Haben Sie einen Moment Geduld. Danke, Sir.«
    Stevie-Wonder-Musik ertönte. Dann eine schwere Männerstimme.
    »Lew Griffin! Wie geht’s, Mann? Alles okay?«
    Er stockte, und ich sagte gar nichts.
    »Sie erinnern sich vielleicht nicht an mich, Mister Griffin. Wir sind uns vor einigen Jahren mal begegnet. Ich nannte mich seinerzeit Abdullah Abded.«
    »Natürlich«, sagte ich. »Die Schwarze Hand. Überall die Finger drin und bloß nix auslassen.«
    »Sie haben doch hoffentlich unseren Scheck bekommen.«
    »Das wissen Sie doch.«
    »Wir sind Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Griffin. Haben Sie mitbekommen, was aus Corene geworden ist? Sie hat weiterstudiert, ihren Doktor gemacht. Jetzt ist sie in Südamerika, fährt da unten von Dorf zu Dorf, tut, was sie kann. Die Frau kann keiner aufhalten.«
    »Und wofür brauchen Sie mich diesmal?«, sagte ich.
    »Umgekehrt – Sie brauchen mich. Habe gehört, dass Sie einiges durchgemacht haben, Griffin. Habe gedacht, wir könnten Ihnen vielleicht helfen.«
    »Aha?«
    »Habe gehört, dass Sie ein bisschen von der Rolle sind und womöglich eine Bleibe gebrauchen könnten. Wir haben hier unten, unterhalb vom Quarter, ein Behütetes Haus – einige Junkies, ein paar Ex-Knackis, allerhand verlorene Seelen. Leute, die eine Weile ausruhen, ihre Batterien wieder aufladen müssen. Sie sind willkommen.«
    »Warum?«
    »Jeder ist willkommen. Aber Sie sind ein Bruder – und Sie haben uns früher mal geholfen.«
    »Hab aber meine eigenen Anlaufstellen.«
    »Gut so. Aber vergessen Sie uns nicht, wenn’s drauf ankommt. Unter dieser Nummer erreichen Sie immer einen. Halten Sie die Ohren steif, Mann.«
    »Klar.«
    Ich ging rauf zur Canal Street und spazierte eine Weile inmitten der Scharen von Kauflustigen, Touristen und sonstigen Leute rum, die sich eine halbe oder ganze Stunde Freizeit gönnten, während andere ziellos an Bushaltestellen und Straßenecken rumhingen. Vor dem Maison Blanche wetterte Sam der Prediger wider das Böse, forderte zur Buße auf und zum ewigen Kampf um die Wiedergeburt. Sam hält die Stellung schon seit über zwanzig Jahren, und soweit ich weiß, hat er nicht einen einzigen Tag gefehlt, ob bei Sonne, Regen oder Hurrikan, wenn’s dazu kam. Seit zwei Jahren hat er einen Jungen dabei, der etwa zwölf, dreizehn ist und auf der Trompete Choräle spielt, wenn Sam mal für kurze Zeit nicht predigt. In einer Stadt, die berühmt ist für ihre Exzentriker und stolz darauf, sind Sam und die Duck Lady vermutlich so was wie König und Königin. Ab und zu kreuzt sie immer noch im French Quarter auf, zieht einen kleinen Wagen hinter sich her, dem eine Schar quakender Enten jedweder Größe folgt.
    Ich ging runter zum Fluss und auf dem Uferdamm entlang, wo es nach Brauerei roch, nach Hopfen und Malz, nach altem, abgestandenem Wasser und dem Zeug, das darin wuchs.
    Es war letzten Endes eine Art Wiedergeburt. Kein Zuhause, keinerlei Arbeit oder Beruf, bloß ein Haufen lockerer Kontakte – alles fing wieder von vorne an. Worte wie Tabula rasa oder Palimpsest kamen mir in den Sinn, Begriffe, die ich vor langer Zeit auf dem College gehört hatte. Und noch was, das von dem Iren stammte, der auf Französisch schrieb, irgend so was wie: Ich kann nicht mehr … ich mache weiter.
    Es wurde allmählich kälter, und ein steter, leichter Wind wehte über das Wasser. Lastkähne tuckerten flussaufwärts, nach Memphis oder St. Louis. Touristen strömten an Bord eines Ausflugsdampfers, auf dessen Vordeck am hellen Nachmittag eine Tanzkapelle aufspielte.
    Ich musste an eine Prüfung denken, die man uns seinerzeit auf der Schule vorgesetzt hatte, als ich um die fünfzehn gewesen sein muss, etwa in der neunten Klasse. Zig Fragen wie diese: »Sie sind schon lange auf hoher See. Der Kapitän ist ein grausamer, ungerechter Mann. Eines Nachts kommt einer der Seeleute zu Ihnen und fragt Sie, ob Sie

Weitere Kostenlose Bücher