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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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gerade die Glastür aufstoßen, als ich aufblickte und sie auf der andern Seite sah.
    »Mister Griffin«, sagte sie. »Wie geht es Ihnen?«
    Ich sagte, mir ginge es prima, und fragte, ob es ihr was ausmachte, wenn ich ihr Gesellschaft leistete.
    »Überhaupt nicht. Ich bin beim Mittagessen immer allein.«
    Wir setzten uns in eine Ecknische. Sie bestellte sich einen Salat und wirkte viel jünger, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich trank noch einen Kaffee. Die Bedienung drehte sich ständig nach uns um.
    »Ich wollte mich bei Ihnen bedanken«, sagte ich. »Ich glaube, ohne Sie hätte ich das alles gar nicht durchgestanden.«
    »Aber ja doch, natürlich. Unsere wahre Kraft zeigt sich erst dann, wenn wir am Boden sind, nicht wahr? Und ich werde hier in den Staaten so gut bezahlt, dass ich nicht auf Dankesworte angewiesen bin, wirklich.« Sie senkte den Kopf. »Aber ich freue mich, dass Sie mich besuchen kommen.«
    Keiner von uns sagte noch was. Dann, nachdem sie eine ganze Weile an ihrem Salat rumgestochert hatte, sagte sie: »Ich bin seit vierzehn Monaten hier. Ich kenne ein paar Leute, mit denen ich zusammenarbeite, zwei Leute aus dem Apartmenthaus, in dem ich wohne, und das ist alles. Jeden Monat denke ich: Du solltest wieder nach Hause gehen.«
    »Ich bin froh, dass Sie’s nicht gemacht haben.«
    »Ich vielleicht auch, jetzt im Moment.«
    Wir saßen da, bis der Kaffee und der Salat alle waren, und schauten einander an. Schließlich sagte sie: »Ich muss jetzt wieder auf die Station, Mister Griffin –«
    »Lew.«
    »Lew. Aber ich hoffe doch, dass ich Sie wiedersehe.«
    »Jederzeit, wenn Sie das möchten, Vicky.«
    Inzwischen standen wir vor der Cafeteria, mitten in der Ladenzeile. Rundum drängten sich die Leute an uns vorbei.
    »Ich möchte es. Ich bin fünfunddreißig, Mister Griffin. Ich hatte ein paar Beziehungen mit Männern, war zweimal verlobt. Aber ich möchte gern heiraten, möchte vielleicht sogar Kinder. Möglicherweise erschreckt Sie das.«
    »Mich kann kaum mehr was erschrecken, dazu hab ich zu viel durchgemacht.«
    »Gut, na denn.« Sie holte einen Notizblock aus der Hosentasche und kritzelte irgendwas drauf. »Hier, meine Telefonnummer und die Adresse. Rufen Sie mich an.«
    »Wann passt es Ihnen am besten? Wegen der Schicht und so.«
    »Jederzeit. Morgens um halb acht ist am besten – entweder habe ich die ganze Nacht geschlafen, oder ich komme eben von der Arbeit. Um zehn Uhr abends etwa ebenso. Um die Zeit erreichen Sie mich so gut wie immer. Meistens habe ich Nachtschicht.«
    »Okay. Bis bald, Vicky.«
    »Das hoffe ich doch. Au revoi r.«
    Die Einheimischen hier in New Orleans verschlucken das R für gewöhnlich oder lassen es ganz unter den Tisch fallen, deswegen klingt der Akzent, den die breite Masse der weißen Bevölkerung spricht, ganz und gar nicht nach Südstaaten, sondern eindeutig nach Bronx. Vickys R waren wie ein wunderbarer Kontrapunkt dazu. Sie koste sie, so als ob sie jedes einzelne liebte, als ob es das letzte wäre, das sie womöglich von sich geben durfte.
    Nachdem sie gegangen war, warf ich einen Blick auf den Zettel in meiner Hand. Er stammte von einem Notizblock, auf dem eine pharmazeutische Firma für ein Mittel warb, das als »Stimmungsheber« angepriesen wurde. Ich fand das ganz passend.

3
    In unserem Leben muss stets ein Licht leuchten, sagte einer meiner Lehrer auf dem College. Er war ein Dichter gewesen, offenbar ein guter, angesehener, vielversprechender. Sein Lebenslicht erlosch in dem Jahr, in dem ich bei ihm mit dem Literaturstudium anfing. Mitten im zweiten Semester kam er zwei Tage hintereinander nicht zu den Vorlesungen. Man fand ihn am Boden seines Badezimmers. Er hatte sich an einem Haken über der Badewanne erhängt, und obwohl der Haken aus der verrotteten Rigipsdecke gerissen war, hatte er sich bereits den Kehlkopf zerquetscht und außerdem beim Sturz auf den Wannenrand das Rückgrat gebrochen, so dass er kurz darauf zuckend und zappelnd inmitten der rausgebrochenen Gipsbrocken gestorben war.
    Ich spürte, dass durch die Begegnung mit Vicky, durch das allmähliche Kennenlernen, zumindest in meinem Leben wieder ein Licht leuchtete. Es war eine ganze Weile nicht mehr da gewesen.
    Ich fing an, die Außenstände für ein Kreditunternehmen drüben an der Poydras Street einzutreiben. Walsh hatte mich auf Herz und Nieren überprüft, und ich war immer noch groß genug und wirkte nach wie vor so fies, dass ich tüchtig Geld für sie eintrieb. Am Anfang zahlte man

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