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Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Stiller Zorn: Roman (German Edition)

Titel: Stiller Zorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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dies und jenes nachzudenken. Er stopfte ein paar Jeans, T-Shirts und Flanellhemden in Papiertüten. Ließ einen Stapel Geld auf dem Küchentisch liegen, Einkünfte, die vom Verkauf seines Ladens stammten, und Geld, das er (offenbar) im Lauf der Jahre gehortet hatte, als alle sagten, er gebe jeden Cent für Alkohol aus. Es war (wie Jerry mir viel später erzählte) eine erstaunliche Summe. Und das war das letzte Mal, dass er seinen Vater sah.
    Sein Vater zog in eine Höhle draußen am See und lebte dort jahrelang, aber Jerry ging ihn nie besuchen. Er ernährte sich von dem, was er im Wald erbeuten konnte, und von den Fischen, die er im See fing, kam aber nie wieder in die Stadt. Viele Leute sagten, er wäre jetzt endgültig übergeschnappt. Andere suchten bei ihm Rat.
    In meinem ersten Jahr auf der Highschool entdeckte ich Bücher: Thoreau, dann ziemlich rasch danach Leute wie Gandhi, Tolstoj, Twain, Faulkner. Verschlang ganze Biografien über sie und ihre eigenen Werke, so wie andere Kinder Süßigkeiten oder Sandwiches, hockte tagelang über ihren Briefen und Tagebüchern, vornübergebeugt wie ein großes Fragezeichen, während draußen der Staub des Deltas vorüberzog.
    Hobbes, zum Beispiel, mit seinem Paradoxon der Macht. Je mehr Macht man innehat, sagte Hobbes, desto mehr Macht ist erforderlich, um diese Macht zu erhalten. Nur wenn man ein Niemand ist, wenn man nichts hat, das irgendjemand haben möchte, sei man frei, werde in Ruhe gelassen und könne sich ungestört den kleinen Dingen des Alltags widmen. Ich glaube, Jerrys Vater hatte so etwas Ähnliches bezweckt. Und mein Volk, die Neger, so wurde mir klar, waren die absoluten Hobbesianer.
    Vermutlich entspricht nicht allzu viel davon der Wahrheit; teilweise habe ich es mir in meinem jugendlichen Leichtsinn (weil ich das so wollte) aus einem rohen Gerüst von Fakten zusammengereimt, und alles Weitere ist im Nachhinein, in der Erinnerung (die von jeher eher Dichter als Reporter ist) zurechtgezimmert. Wahrscheinlich war Jerrys Vater nur ein ganz gewöhnlicher Trinker, der auf eine letzte lange Sauftour seines Lebens gezogen, einfach ausgestiegen (wie man ein paar Jahre später sagte) und schließlich an seinem eigenen Erbrochenen erstickt oder in dem schlierigen, schwefligen Wasser des Sees ertrunken ist. Jedenfalls habe ich die Geschichte auf dem College für zwei Aufsätze in Englisch und Geschichte und für meine Semesterarbeit in Philosophie verwertet und immer eine Eins bekommen.
    Ich weiß nicht, wann ich endlich einschlief, aber es kam mir so vor, als wäre es erst einen Moment her, als das Telefon klingelte.
    »Tut mir leid, wenn ich dich wecke, aber ich dachte, du würdest dir sonst Sorgen machen.«
    Ich schaute auf die Uhr. Kurz vor sieben. Draußen stimmten sich die Vögel ein.
    »Ich bleibe noch eine Weile hier, wenn es dir recht ist. Wir hatten eine schlimme Nacht, und jetzt noch dreimal Notstand. Rundruf an alle Schwestern. Ich kann die Mädels damit nicht einfach alleine lassen. Gehst du heute arbeiten?«
    »Vermutlich nicht. Hatte gestern einen ziemlich guten Tag. Mal sehn.«
    Und legte mich augenblicklich wieder schlafen, wachte erst auf, als Vicky neben mir ins Bett stieg.
    »Ich bin so was von müde«, sagte sie. Dann: »Aber so müde nun auch wieder nicht.«
    Hinterher schaute ich wieder auf die Uhr – kurz nach zwölf – und wälzte mich aus dem Bett. Vicky rollte sich auf die linke Seite und murmelte irgendwas. Ich setzte Wasser auf, mahlte Bohnen, rasierte mich, kam dann zurück, zog mich an und nahm den Kaffee mit raus auf den Balkon.
    Die Leute strömten und drängten zur Arbeit wie Wasser, das sich in einen Kanalschacht ergießt. Wie viele von denen lebten vierzig Jahre lang immer im gleichen Trott – um sechs aufstehen, Viertel nach sechs duschen, frühstücken, eine zweite Tasse Kaffee, die Kinder zur Schule bringen, um acht auf die Stadtautobahn oder die St. Charles Avenue beziehungsweise in den Bus und die Straßenbahn, um neun im Büro oder Geschäft. Danach um sechs wieder nach Hause, ein, zwei Gläser trinken, ein bisschen fernsehen oder mit den Kindern spielen vielleicht, am Montag oder Dienstag raus zum Einkaufszentrum, am Sonntagnachmittag ins Kino oder zum Baseball.
    Ich hatte einen Sohn. Es war lange her, dass ich ihn gesehen hatte, dass ich ihn hatte sehen wollen. Jetzt wollte ich ihn sehen. Aber dann rief Walsh an.
    »Lew? Hab nicht gedacht, dass ich dich erreiche. Ich hab gerade mit Bill Sansom gesprochen. Jimmi Smith

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