Stille(r)s Schicksal
Gefühl im Magen sagte ihm, dass er es mit seiner zur Schau gestellten Gleichgültigkeit nicht auf die Spitze treiben dürfe.
Doch der ganz große Ärger, vor dem er schon innerlich in Deckung gegangen war, brach diesmal überhaupt nicht los, Helmut umschloss lediglich seine kleine Kaffeetasse mit seinen großen Händen, als wollte er sich wärmen, dabei war es draußen - und in der Küche erst recht, wahrlich warm genug. Dann schluckte der Vater mehrmals geräuschvoll. Sven sah den Adamsapfel am Hals des Vaters tanzen. Aber bedrohlich sah das heute nicht aus. Konnte er jetzt also raus aus seiner Deckung?
Auch Margot hatte ihre verschränkten Abwehrarme gelöst und schlürfte anscheinend ganz genüsslich ihren Kaffee. Keiner von beiden schien ihn mehr zu beachten, niemand fragte mehr etwas. Jetzt fiel Sven erst auf, wie still es war, nicht einmal die Geräusche von der Straße drangen herauf, doch es war auf einmal nicht mehr diese spannungsgeladene, unangenehme Stille, die er kannte. Diese hier erschien ihm mit einem Mal friedlich, nur sanft unterbrochen durch das Geräusch, das es machte, wenn Helmut seine Tasse absetzte, die Küchenuhr tickte und die ersten Fliegen von sonstwo her kamen und um die tief hängende Lampe summten. Selbst das schien heute niemanden zu stören.
Sven wusste selbst nicht, wieso er plötzlich diesem unerwarteten Frieden traute, aber er tat es. Rückhaltlos.
"Ach wisst ihr, ich habe da in Teneriffa ein Mädchen kennengelernt", hörte er sich plötzlich sagen. Und nun, da das Schweigen erst einmal gebrochen war, machte es ihm nichts mehr aus, weiter zu erzählen. Von Anne.
"Doch", sagte er ein wenig gedehnt, "die ist wirklich nett, aber jetzt scheint sie wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Ich rufe dauernd an, aber niemand meldet sich. Vorhin war ich wieder am Haus klingeln, aber niemand war da. Sie wohnt hinten am Freizeitpark, wisst ihr, in einem der Würfelhäuser."
Sven fühlte, wie sein Herz mit jedem Wort leichter wurde. Das bemerkte diesmal sogar seine Mutter, sie schoss blitzschnell einen warnenden Blick zu ihrem Mann, dass der ja nicht wieder so ein demütigendes Verhör anfing, bei dem er seine Fragen wie spitze Pfeile abzuschießen pflegte. Er schloss seinen bereits geöffneten Mund wieder, manchmal klappte es eben doch noch mit ihrer Verständigung ohne Worte.
Auch Margot blieb weiter schweigsam, bis auf ein paar bestätigende Laute, die ihrem Sohn signalisierten, dass sie gewillt und in der Lage war zuzuhören.
Sven registrierte das ebenso erstaunt wie dankbar und sprach weiter.
"Ach, ich habe ja noch gar nicht erzählt, wie sie heißt. Also, sie heißt Anne. Anne Hellwig. Sie arbeitet bei einer Zeitung als Sekretärin. Wir haben uns auf der Insel ganz prima verstanden, aber dann haben wir uns plötzlich aus den Augen verloren."
Einen Augenblick hielt Sven inne, holte tief Luft und senkte den Kopf.
Helmut kochte innerlich. Wie kann man sich denn einfach aus den Augen verlieren! Sven stellte sich wieder an … Das war doch bestimmt nicht alles, vielleicht hatte er ihr ja sogar ein Kind gemacht, dachte er, aber Margot hielt ihn mit den Augen in Schach, gebot ihm mit unmissverständlichen Blicken, seine Gedanken ja nicht laut werden zu lassen.
Sven stand auf, holte sich eine von den großen Henkeltassen und den Kaffee. Erst, als die Tasse auf dem Tisch stand, fiel ihm ein, dass das wieder als Provokation ausgelegt werden könnte. Doch alles blieb ruhig, obwohl sie doch sonst immer Wert darauf legten, dass beim gemeinsamen Kaffee trinken die kleinen, Goldrandtassen (mit Untertasse, versteht sich!) genommen wurden.
Die Mutter schaute angelegentlich aus dem Fenster. Der Vater schoss zwar jetzt einen seiner durchdringenden Blicke auf seinen Sohn ab, aber die Augenbrauen waren wieder an der Stelle, wo sie hingehörten. Kein Grund zur Panik also.
"Weißt du, wenn jemand nicht ans Telefon geht", sagte Helmut plötzlich unerwartet, "dann gibt es da mehrere Möglichkeiten. Sie kann zum Beispiel auf Dienstreise, zum Lehrgang oder krank sein. Hast du denn überhaupt schon mal bei der Zeitung nachgefragt?"
Seine Worte klangen, wie fast immer, herablassend und belehrend.
"Nein", sagte Sven leise, er konnte die Schulmeisterei heute offenbar besser als sonst wegstecken, "das sollte ich vorerst auf keinen Fall tun, ihr Chef liebt es wohl nicht, wenn seine Mitarbeiter Privatgespräche während der Arbeitszeit führen."
Der Vater nickte, als hätte er sehr wohl Verständnis für
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