Stille(r)s Schicksal
hervor, steckte alles Kleingeld, das er finden konnte in das Sparschwein neben dem Telefon. Die klimpernden Geräusche veranlassten seinen Vater, sich umzudrehen und anerkennend zu lächeln.
Sven nahm es erstaunt zur Kenntnis und verschwand im sogenannten Kinderzimmer, um in Ruhe nachdenken zu können. Dieser Raum war sein geschütztes Territorium, hier behelligten ihn seine Eltern schon lange nicht mehr. Er warf sich aufs Bett und ließ seine Blicke schweifen. Er dachte an Anne und fragte sich, ob es ihr wohl hier gefallen würde.
Der ausrangierte Tisch aus dem Wohnzimmer, eigentlich viel zu groß für den Raum, war übersät mit alten Zeitungen, ein paar Apfelgriebschen und Krümeln seines gestrigen heimlichen Abendmahls. Das Korbgeflecht der Stühle hing an manchen Stellen herunter, an den Schranktüren prangten zahllose Fingerabdrücke, die Scheiben waren voller Fliegendreck. Irgendwann werde ich aufräumen und auch mal die Scheiben putzen, nahm er sich vor. Doch jetzt war keine Zeit, sich mit solchen Lappalien abzugeben. Wieder hatte ihn die Sorge um Anne fest im Griff. Warum hatten sie sie in ein größeres Krankenhaus geschafft? Da musste es sich ja um etwas Ernstes handeln. Er musste sie unbedingt so schnell wie möglich sehen!
Nur ganz kurz träumte er sich zurück auf die Insel, hörte, wie sich die Wellen an den Felsen brachen und wie Annes Lachen von den Wänden der Cañons widerhallte. Schmerzlich wurde ihm wieder bewusst, wie sehr er darunter litt, dass sie sich nach ihrer Rückkehr von Teneriffa, seit ihrem unterkühlten Abschied vor der Haustür nicht mehr wieder gesehen hatten. Er sehnte sich so sehr nach ihr. Nach ihrer Haut, nach ihren blauen Augen, nach ihrem Mund, nach ihrem natürlichen Duft, nach ihren blonden Locken, nach ihren leicht spöttischen Bemerkungen auch und nach ihrem Lachen. Nach dem ganz besonders, akustisch untermalt vom Rauschen des Atlantiks und visuell von bizarren Pflanzen und Lavagestein.
Als er kurz die Augen öffnete, fiel sein Blick auf den Regulator, und der Tagtraum war ausgeträumt. So schnell war er noch nie vom Bett hoch. Bis neunzehn Uhr war zwar noch über eine Stunde Zeit, aber er wollte lieber eher losfahren als zu spät kommen. Sven griff sich die Jacke von der Stuhllehne, zog sie während des Gehens an und riss den Autoschlüssel vom Haken.
"Ich fahre mal schnell nach Kottberg, Anne liegt dort im Krankenhaus", rief er in Richtung Küchentür. Sie stand wie immer breit offen, aber ob ihn jemand gehört hatte, wusste er nicht. Und es war ihm auch völlig gleichgültig.
Wiedersehen - freudig und leidvoll
Der jadegrüne Trabant rollte emsig und klapprig die Landstraße entlang, im Radio dudelte Volksmusik. Sven störte heute weder das Klappern noch die Schunkelmusik. Er sang sogar mit, nur den Text hatte er abgewandelt: "Ich fahr zu Anne, Anne, Anne, fahr zu Anne, Anne, Anne, was denn sonst" trällerte er fast übermütig vor Glück. Keinen Blick hatte er für die Gegend, unbeachtet blieben die endlosen Kiefernwälder, die malerischen Badeseen, die aus Tagebaurestlöchern entstanden waren, die lang gestreckten Dörfer mit ihren Drei-Seiten-Höfen, in die man meist durch hohe gewölbte Holztore gelangte. Auch dem Mädchen, das am Ortsausgang eines solchen Dorfes am Straßenrand winkte, schenkte er nicht die geringste Beachtung, obwohl sie jung und hübsch war. Ihr Daumen war sowieso enttäuscht nach unten gesunken, als sich das herannahende Auto als alte DDR-Rennpappe entpuppt hatte. Doch Sven hatte auch das nicht bemerkt. Er rollte zu Anne!
Kurz darauf stand er auch schon auf den Parkplatz des riesigen Krankenhauskomplexes. Sven jubelte innerlich noch immer, denn alles andere würde jetzt nur noch eine Sache von wenigen Minuten sein.
Doch dann irrte er länger als gedacht auf so vielen peinlich sauberen, langen Fluren mit zahlreichen Quergängen umher, fragte jemanden, wurde wieder woanders hingeschickt. Er kam sich vor wie im einem Labyrinth.
Sven wusste keine Zimmernummer. Er hätte ja schon am Telefon oder halt an der Eingangsloge danach fragen können, hat es aber in seiner Aufregung vergessen. Dieses Versäumnis kostete ihn nun unnötig Zeit. Mist!
Am Ende eines langen Ganges entdeckte er so etwas wie ein Glasbüro. Entschlossen ging er darauf zu.
Eine junge Frau in weißem Kittel sortierte gerade irgendwelche Aktenblätter in schmale Hefter, hängte sie nacheinander sorgfältig auf eine Metallschiene. Eine weitere Frau legte den
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