Stille(r)s Schicksal
einschenken.
"Weißt du, ich bin sehr krank. . ." hob sie an, weiter kam sie nicht, denn Sven hatte seine schwielige Hand auf ihren etwas schmaler gewordenen Mund gelegt.
"Ich weiß", sagte er nur, schob die Bettdecke etwas zur Seite und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante.
"Ich weiß alles, aber gerade deshalb gehören wir doch zusammen."
Da war sie also wieder, seine Entscheidung, die er bereits vor dem Betreten des Krankenzimmers getroffen hatte. Ob er sie auch aufrechterhalten könnte, wenn er die Todkranke sah, war er sich bis dahin allerdings noch nicht so sicher gewesen. Annes Anblick hatte ihn jedoch in seiner Ansicht noch bestärkt, so kam es, dass er ihr diesmal auch sagte, was er fühlte und dachte.
Nur seine Verzweiflung und seine Angst blieben unausgesprochen, er wagte ja selbst kaum daran zu denken, was passieren würde, wenn seine Liebe stirbt …
Anne wäre die Letzte, der er mit seinen Ängsten das Herz schwer machen wollte. Was sie jetzt brauchte, war bedingungslose Zuwendung und Zuversicht, das fühlte er mehr als dass er es wusste. Sven nahm sich also vor, alles daran zu setzen, ihr beides zu geben.
Annes Kopfschütteln fiel nicht so energisch aus, wie sie es sich vorgenommen hatte. Fast war sie dankbar für seine Worte, wusste aber nicht, ob sie es ihm sagen sollte. Deshalb war sie erleichtert, als er einfach zum Alltag überzugehen schien.
"Gibt es hier eine Vase?"
Sven hatte die Blumen immer noch in der Hand, stand auf und schaute sich suchend um. Vergeblich.
"Vasen sind draußen im Flur, in dem hohen, gelben Schrank", kam es gleich mehrfach von den anderen Frauen. Dankend nickte er in die Runde.
Nachdem die Rosen auf dem Nachttisch ihren Platz gefunden hatten, zog Sven einen harten Stuhl heran und setzte sich wieder. Er umfasste Annes blasses Gesicht mit einem Blick, in dem all seine Liebe, aber auch all seine Sorge lagen.
Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals sonderlich kräftig gewesen sein könnte, aber jetzt erschien sie ihm fast als durchsichtig. Ihre Wangen unter den hohen Jochbeinen waren eingefallen, unter ihren tief in die Höhlen gesunkenen Augen lagen dunkelgraue Schatten.
Sven nickte gedankenverloren, als ihm der Doktor und seine lange Rede einfielen. Anne soll jede Chemotherapie oder Operation abgelehnt haben, um dem ungeborenen Kind nicht zu schaden. Auch den vorgeschlagenen Schwangerschaftsabbruch soll sie weit von sich gewiesen haben. Über die Gründe hatte sie dem Arzt angeblich keine Auskunft gegeben.
Auch jetzt schienen weitere Worte fehl am Platz zu sein, es genügte ihnen, ihre Blicke ineinander zu versenken und sich so fest an den Händen zu halten, als wollten sie einander nie mehr loslassen. Annes schmale, fast weiße Hände bildeten zu seinen kräftigen, gebräunten Pranken einen seltsamen Kontrast. Dieses Bild erfüllte sie nun doch mit Zuversicht.
Für beide schienen sich die strengen Grenzen von Zeit und Raum zu verschieben, es kam ihnen nicht so vor, als seien seit ihrer ersten Begegnung schon so viele Wochen vergangen.
Ihr Gefühl für Sven war stärker denn je. Doch gleich darauf meldete sich wieder ihr Verstand. Sie wusste, dass sich die Zeit nicht zurückdrehen ließ, sah ein, dass es eigentlich keinen Sinn hatte, jetzt noch eine Bindung einzugehen.
Als hätte Sven ihre Gedanken erraten, sagte er ganz unvermittelt: "Wir werden heiraten."
Er hatte mit einer Bestimmtheit gesprochen, die keinen Widerspruch duldete.
Dieser Satz hing jetzt zwischen ihnen, einfach und klar. Für Sven war es momentan der wichtigste Satz, der gesprochen werden musste. Mit den Folgen konnte er sich später immer noch beschäftigen.
Doch Anne wollte nichts davon hören. Abwehrend hob sie die Hände.
"Oh, nein", protestierte sie lauter als beabsichtigt, "das geht auf gar keinen Fall, ich werde bald sterben!"
Die Köpfe aus den Nachbarbetten und die der inzwischen eingetroffenen anderen Besucher wandten sich ihr kurz zu, nahmen dann aber gleich wieder ihre eigenen Gespräche auf.
Im Grunde war das ja auch gar keine richtige Neuigkeit. Sie hatten hier schließlich alle diese furchtbare Krankheit, vor der es viel zu oft kein Entrinnen gab.
Doch für Sven stand fest, dass Anne wieder gesund werden würde. Es gab doch so viele Menschen, die den Krebs besiegt hatten, redete er sich ein. Namen fielen ihm ein, bekannte wie unbekannte. Dass es noch viel mehr Menschen gab, die den Kampf gegen den Krebs verloren hatten, wollte er sich einfach nicht
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