Stille(r)s Schicksal
ein Monolog, denn er selbst hatte kaum etwas beigesteuert, noch einmal Revue passieren. Dabei fielen ihm zwei Dinge auf: Erstens ihre nüchterne Art, mit der sie über ihre Krankheit und ihren nahen Tod gesprochen hatte. Und zweitens hatte sie während der gesamten Fotoprozedur, wenn sie davon überhaupt viel mitbekommen hatte, ihren Mann mit keiner Silbe mehr erwähnt. Sven Stiller war in ihren plötzlich laut hervorsprudelnden Gedanken und Gefühlen einfach nicht mehr vorgekommen.
Dieter nahm das Bild des Hofes, auf dem so viele Dinge angefangen und nicht zu Ende gebracht worden waren, mit in sein fotografisches Gedächtnis auf. Aber auch das Bild von Anne, wie sie dort am Zaun gestanden und so lange gewinkt hatte, bis er an der Hauptstraße um die Ecke gebogen war, würde er nicht mehr vergessen können. Manche Bilder bleiben einfach im Herzen und im Kopf haften, auch, wenn es kein Foto davon gibt.
Dieter sollte nie wieder Gelegenheit bekommen, Anne zu fotografieren, denn sie starb kurz nach ihrer erneuten Einweisung ins Krankenhaus.
Geteiltes Leid …?
In der Küche dudelte leise Musik aus dem Radio, niemand achtete darauf. Margot Stiller hatte Wichtigeres zu tun, denn sie erwartete Besuch. Prüfend schaute sie sich in dem quadratischen Raum um, gab noch etwas Möbelpolitur auf den Lappen und wischte ein weiteres Mal an den ohnehin sauberen Schränken herum.
In ihrem Innersten ärgerte sie sich über ihren unnötigen Eifer, aber diese übertriebenen Putzaktionen gehörten seit Jahren zu den Vorbereitungen auf Edeltraud Rotermunds Besuche. Denn Margot war sich vollkommen im klaren darüber, dass Edeltraud mit ihren Argusaugen selbst den kleinsten Fleck entdecken würde. Deshalb glaubte sie, dafür sorgen zu müssen, dass es nichts dergleichen zu entdecken gab.
Jener Wahn seiner Frau war nur einer der Gründe, aus denen Helmut vor diesen Besuchen - oder besser vor dieser Besucherin - regelmäßig in den Garten flüchtete. Allerdings nicht allein wegen des Putzfimmels, von dem seine Frau vor Edeltrauds Besuchen immer wieder heimgesucht wurde, sondern auch wegen des unversiegbaren Redeflusses, der sich aus dem Mund der Freundin seiner Frau erfahrungsgemäß stundenlang ergoss. Ebenso war sie in der Lage, innerhalb kürzester Zeit so viele Themen in eifernder Lautstärke abhandeln, dass ihm schnell der Kopf schwirrte.
„ Du brauchst nicht mit dem Kaffee auf mich zu warten, ich werde gleich die Wasserbecken betonieren und teeren. Sie sind schon wieder gerissen“, kündigte er vorsorglich seiner Frau an. Diese war nicht böse darüber und sah ihn bald darauf vom Balkon aus davon radeln. Margot lehnte sich über die Brüstung und schaute ihrem Mann noch so lange nach, bis er vorn an der Schule um die Ecke gebogen war. Das war nicht nur eine liebevolle Geste, vielmehr wollte sie sich auch vergewissern, dass er wirklich weg war.
Viel zu selten ergab sich die Gelegenheit, mal mit der Freundin allein zu sein. Es hatte sich ja so viel angesammelt, es gab so viel zu erzählen, was ihr für Männerohren nicht unbedingt geeignet erschien.
Flüchtig fiel ihr Blick auf die Kastanien vor dem Balkon, deren Blätter im Wind raschelten, sie hörte einen Moment diesem entspannenden Geräusch zu, das der aufkommende Wind noch verstärkte. Eigentlich könnten wir uns doch hier draußen hinsetzen, dachte Margot und nahm die abgeschabte Gießkanne mit in die Küche, um Wasser für ihre Balkonpflanzen zu holen. Die Geranien und Hängenelken, die lang über die Brüstung hingen, waren Margots ganzer Stolz. Während das Wasser in die Kanne lief, dachte sie daran, auch gleich die Kissen mit hinaus zu nehmen. Heute wollten sie es sich schließlich richtig bequem machen in ihrem Minigarten hoch über der Stadt.
Mit spitzen Fingern zupfte sie sorgfältig die welken Blätter und Blüten ab, ermutigte dabei die Pflanzen, wieder neue auszutreiben. „Und blamiert mich nicht vor Edeltraud!“ ermahnte sie die Blumen. Margot redete in letzter Zeit öfters mit ihnen, auch mit den Zimmerpflanzen. Und wie es aussah, dankten sie es ihr sogar mit sattem Grün und bunter Farbenpracht.
Hier oben, inmitten von Geranien, Hängenelken, Efeu und Weihrauch, fühlte sie sich überhaupt sehr wohl. Sie hätte eigentlich keinen weiteren Garten gebraucht.
Helmut hingegen konnte ohne seine schweißtreibenden Arbeiten nicht sein. Sobald er mal einige Zeit nicht mit Schubkarre, Spaten, Maurerkelle und Mörtel hantieren konnte, wurde er unleidlich.
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