Stille(r)s Schicksal
wartete geduldig auf eine Erklärung, obwohl sie diese doch längst schon zu kennen glaubte.
Aber Sven war noch nicht imstande, ein Wort herauszubringen, statt dessen begann er nun richtig laut zu schluchzen. Seine Mutter stand hilflos daneben und versuchte es noch einmal: „Komm nur, Junge, es wird alles gut, hör schon …"
Das war zu viel. Heftig fiel er ihr ins Wort.
„ Was, Mutter, was soll jetzt noch gut werden? Sie ist tot! Anne ist tot! Heute Vormittag, ich konnte nicht einmal bei ihr sein in ihrem schlimmsten Moment!"
Wieder schüttelte ihn der Schmerz.
„ Und Laura?“ Ihre Frage war nur ein Hauch.
„ Laura ist krank, ich habe sie bei Frau Lärche gelassen.“
Auch das noch, dachte Margot, und sie presste die Stirn gegen die kühle Scheibe. Ihren Sohn noch einmal zu umarmen, vermied sie ängstlich.
Fast gleichmütig klang ihre Stimme wieder, als sie schließlich sagte: „Komm mit, Junge, in die Küche. Wir reden über alles. Ich rufe die Edeltraud an, dass sie heute nicht kommen kann."
Obwohl sich Margots Gedanken und Gefühle fast überschlugen, ihr Herz immer lauter zu hämmern schien: Anne tot, Laura krank, Anne tot, Laura krank, war der Anruf schnell erledigt.
Als Sven noch immer keine Anstalten machte, sich von seinem Hocker zu erheben, ging sie zurück, nahm ihn einfach bei der Hand und zog den Widerstrebenden mit sich fort. Auf halbem Wege gab er seinen Widerstand auf, löste sich aus ihrer Hand und trottete, zwar mit gesenktem Kopf, aber freiwillig, hinter seiner Mutter her.
In der Küche dudelte noch immer das Radio, weder Margot noch Sven nahmen es richtig wahr.
Sie redeten, wie seit langem nicht, miteinander, der Sohn sprach mehr als die Mutter. Mit jedem Wort schien er ruhiger zu werden. Doch beim letzten Schluck Kaffee horchte er auf und wurde blass´. Im Radio sang gerade jemand: Rocky, ich habe solche Angst vorm Stäherben. . .
Sven sprang auf, rannte ins Bad und erbrach sich.
Mutter Margot erhob sich gleichfalls hastig und schaltete das Radio aus. Sie trat wieder ans Fenster und legte ihre Stirn an die Scheibe, doch die erwartete Kühlung blieb aus.
Margot schwirrte der Kopf von all dem, was sie in der zurückliegenden Stunde gehört hatte. Ihre Schwiegertochter war schon wieder im Krankenhaus gewesen, warum nur hatte Sven ihnen nichts davon erzählt? Als sie ihn direkt danach gefragt hatte, war die Antwort ein Achselzucken. Er wollte wohl unbedingt allein mit allem fertig werden, vermutete sie. Solange er seine Arbeit hatte, und Laura bei der Tagespflegemutter war, habe das alles auch ganz leidlich geklappt.
Doch dann sei er selbst auch noch arbeitslos geworden und hatte die Kleine zu Hause behalten. Er habe es eben auch Anne beweisen wollen, dass er gut für Laura sorgen konnte. Sogar ins Krankenhaus habe er sie mitgenommen, doch seine Frau habe ihm dauernd Vorwürfe gemacht: dass Lauras Windeln riechen würden, dass die Babysachen schmutzig seien, dass Lauras Haut immer blasser und schuppiger aussähe.
„ Manches stimmte schon“, hatte Sven eingeräumt, aber seine Versprechungen, es künftig mit der Pflege des Babys genauer zu nehmen, habe er selten einhalten können.
Weil die Kleine heute auch noch kränkelte, habe er sie „lieber gleich bei der Nachbarin gelassen“.
Wieso hatte er Laura nicht zu mir gebracht, und warum war er auch mit der Todesnachricht zunächst zur Frau Lärche gegangen, bevor er zu uns gekommen ist?
Margot zermarterte sich das Hirn, ihr Kopf drohte zu zerspringen, als sie nach ihrer eigenen Schuld zu fragen begann. Sie hatte sich wirklich in letzter Zeit wenig um die jungen Leute gekümmert, gestand sie sich ein. Aber auch erst, nachdem Sven und Anne die Hilfsangebote der Eltern immer wieder ausgeschlagen hatten.
Einmal, nach dem Weihnachtsputz, hatte Sven sie sogar angeschrien: „Hilfe?! Dass ich nicht lache! Ihr wollt doch nur bestimmen, was wir zu machen haben, haut endlich ab!"
An dem Tag waren Margot und Helmut nach Hause gefahren, Margot still und schweren Herzens, weil sie ahnte, dass Sven mit allen seinen Problemen, mit der kranken Frau und dem Baby, nicht zurechtkommen konnte, Helmut triumphierend, weil er schon immer gewusst haben wollte, dass Sven undankbar und ignorant sei. Jeder ihrer weiteren zaghaften Vorschläge, doch wieder einmal nach den Kindern und dem Enkel zu sehen, war von Helmut rigoros abgelehnt worden.
So hatten sich wohl mit der Zeit alle an diesen äußeren wie inneren Abstand gewöhnt.
Das hätte ich nicht
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