Stilles Echo
Sylvestra sich erhoben hatte, und trat nun vor, um Wade mit einer leichten Verneigung zu begrüßen. »Guten Abend, Dr. Wade. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Wenn es soweit ist, werden wir in medizinischer Hinsicht Ihre Hilfe benötigen. Ich glaube, Sie kennen Rhys schon sehr lange?«
»Seit seiner frühen Kindheit«, antwortete Wade. Er wirkte beunruhigt, als fürchte er sich vor dem, was Rathbone ihn vielleicht fragen mochte. »Sie ahnen nicht, wie sehr ich mir wünsche, ich könnte irgendeine Aussage machen, die diese furchtbare Tragödie ein wenig abschwächen würde. Aber mir ist nichts eingefallen.« Sein Arm ruhte noch immer leicht auf dem Sylvestras. »Wie wird Ihre Verteidigung aussehen, Sir Oliver?«
»Ich weiß noch nicht genug über diesen Fall, um das sagen zu können«, erwiderte Rathbone glatt. Wenn er ebenso ratlos war wie Hester, konnte er diese Regung hervorragend verbergen.
»Was gibt es da noch herauszufinden?« fragte Wade. »Mrs. Duff hat mir erzählt, was die Polizei glaubt: daß Rhys die Gesellschaft von Straßenfrauen gesucht hat, dem niedrigsten Element unserer Gesellschaft, einem Quell von Krankheit und Verderbnis. Nach Auffassung der Polizei hat er in diesen Beziehungen ein gewisses Maß an Gewalttätigkeit an den Tag gelegt, und Leighton hat schließlich Verdacht geschöpft. Als er ihm folgte und ihn wegen seines Benehmens zur Rede stellte, kam es zum Kampf. Rhys wurde verletzt, wie Sie ja wissen, und Leighton, der der Ältere und von dem Angriff wahrscheinlich überrascht war, wurde getötet. Ließe sich eine Verteidigung vielleicht auf die Vermutung gründen, daß der Kampf nicht so weit gehen sollte und daß der Tod ein Unfall war?« Noch bevor er geendet hatte, verriet sein zweifelnder Blick, wie wenig seine Worte ihn selbst überzeugten.
»Wenn zwei Männer miteinander kämpfen und einer der beiden stirbt, ist das Mord«, erwiderte Rathbone, »es sei denn, man kann beweisen, daß es ein Unfall war. Um auf Totschlag zu plädieren, müßten wir demonstrieren können, daß Leighton Duff durch ein Mißgeschick zu Fall gebracht wurde oder auf eine Waffe gestürzt ist, die er bei sich trug – irgend etwas in dieser Richtung. Ich fürchte jedoch, daß nichts dergleichen geschehen ist. Die Verletzungen stammen alle von Fäusten oder Stiefeln. Solche Dinge geschehen nicht versehentlich.«
Wade nickte. »Genau das habe ich befürchtet, Sir Oliver, meinen Sie nicht, daß wir dieses Gespräch vielleicht unter vier Augen fortsetzen könnten? Es muß Mrs. Duff großen Kummer bereiten, uns zuzuhören.«
»Nein«, protestierte Sylvestra scharf. »Ich lasse mich nicht aus einer Unterhaltung ausschließen, bei der es vielleicht um das Leben meines Sohnes geht! Außerdem – wenn es Beweise gibt, werde ich vor Gericht davon erfahren. Es wäre mir lieber, diese Dinge jetzt zu hören und zumindest darauf vorbereitet zu sein.«
»Natürlich«, sagte Rathbone voller Bewunderung. »Wie die Sache auch ausgehen mag, Sie werden Ihren Seelenfrieden nur dann wiederfinden, wenn Sie wissen, daß Sie nichts unversucht gelassen haben, was Ihrem Sohn in irgendeiner Weise hätte helfen können.«
Sylvestra sah ihn an, und eine Sekunde lang flackerte Dankbarkeit in ihren Augen auf.
»Die Anklage wird also auf Mord lauten, Sir Oliver?«
»Ja. Ich fürchte, es wird unmöglich sein, auf einen Unfall zu plädieren.«
»Und es ist nicht vorstellbar, daß Leighton Rhys angegriffen hat oder daß Rhys aus Notwehr gehandelt hat«, fuhr Wade mit ernster Stimme fort. »Leighton mag sich von Rhys’ Verhalten abgestoßen gefühlt haben, aber er hätte nicht mehr getan, als die Hand zu heben. Möglich, daß er Rhys geschlagen hat, aber viele Väter züchtigen ihre Söhne. Diese Dinge enden nicht mit Mord. Ich weiß von keinem Sohn, der zurückschlagen würde.«
»Welche Verteidigung könnte es dann für ihn geben?« fragte Sylvestra verzweifelt. Sie blickte kurz zu Hester hinüber, dann wandte sie sich wieder den beiden Männern zu. »Was bleibt uns dann noch übrig? An wen können wir uns wenden? Wohl kaum an Arthur oder Duke?«
»Ich fürchte, nein, meine Liebe«, sagte Wade und senkte die Stimme. »Wären die beiden in die Tat verwickelt gewesen, wären sie ebenfalls verletzt, unübersehbar verletzt. Und Sie und ich, wir wissen beide, daß das nicht der Fall ist. Wenn die Polizei nicht zwei oder drei Unholde in St. Giles ausfindig machen kann, dann muß es Rhys gewesen sein. Und sie haben niemanden
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