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Stilles Echo

Stilles Echo

Titel: Stilles Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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die Furcht vor dem, was er dort finden würde, und die Demütigung, sich Runcorn stellen und sein Bedauern eingestehen zu müssen.
    Hatte er das, was dazu notwendig war – Mut?
    Monk war grausam gewesen, despotisch, vorschnell in seinem Urteil, aber er war niemals ein Lügner gewesen, und er war zu keiner Zeit seines Lebens ein Feigling gewesen.
    Er trank seinen Tee aus, kaufte sich noch ein Brötchen und ging dann Richtung Polizeirevier.
    Monk mußte bis Viertel nach neun warten, bis Runcorn auf dem Revier ankam. Er sah in seinem modischen Übermantel warm und trocken aus, sein Gesicht war gerötet und frisch rasiert, seine Schuhe glänzten.
    Runcorn musterte Monk mit nüchternem Blick von Kopf bis Fuß, von seinem tropfenden Haar, dem übernächtigten Gesicht und den hohlen Augen über seinen nassen Mantel bis hinunter zu seinen durchweichten, schmutzigen Stiefeln. Seine Miene war selbstgefällig und triefte vor Befriedigung.
    »Sie sehen so aus, als machten Sie harte Zeiten durch, Monk«, sagte er wohlgelaunt. »Wollen Sie reinkommen und sich die Füße wärmen? Vielleicht hätten Sie auch gern eine Tasse Tee?«
    »Die hatte ich bereits, vielen Dank«, erwiderte Monk. Nur die scharfe Erinnerung an seine Verachtung für Feiglinge hielt ihn dort fest, das und der Gedanke daran, was Hester von ihm halten würde, wenn er sich dieser letzten Konfrontation entzog. »Aber ich würde gern hereinkommen. Ich möchte mit Ihnen reden.«
    »Ich bin ziemlich beschäftigt«, antwortete Runcorn. »Aber ich denke, ich kann fünfzehn Minuten für Sie erübrigen. Sie sehen schrecklich aus!« Er öffnete seine Bürotür, und Monk folgte ihm. Jemand hatte bereits das Feuer entzündet, und eine angenehme Wärme schlug ihnen entgegen. In der Luft lag der schwache Duft von Bienenwachs und Lavendelpolitur.
    »Setzen Sie sich«, sagte Runcorn. »Aber ziehen Sie zuerst Ihren Mantel aus, sonst machen Sie mir noch meinen Stuhl schmutzig.«
    »Ich habe die Nacht in St. Giles verbracht«, erklärte Monk, der immer noch stand.
    »So sehen Sie aus«, gab Runcorn zurück. Er zog die Nase kraus. »Und, offen gesagt, so riechen Sie auch.«
    »Ich habe mit Bessie Mallard gesprochen.«
    »Wer ist das? Und warum erzählen Sie mir das?« Runcorn setzte sich und machte es sich bequem.
    »Sie war in ihrer Jugend eine Hure. Jetzt besitzt sie eine kleine Pension. Sie hat mir von der Nacht erzählt, in der die Razzia in dem Bordell in der Cutters’ Row durchgeführt wurde. Die Razzia, bei der Richter Gutteridge gefunden wurde und er die Treppe hinunterfiel…« Monk hielt inne. Eine Woge stumpfer Röte breitete sich in Runcorns Gesicht aus. Seine Hände, die flach auf dem Schreibtisch gelegen hatten, ballten sich zu Fäusten.
    Monk holte tief Atem. Es gab kein Zurück mehr.
    »Warum habe ich Sie genug gehaßt, um Sie da hineinrennen zu lassen? Ich erinnere mich nicht.«
    Runcorn starrte ihn an, und seine Augen weiteten sich, während ihm langsam klar wurde, was Monk sagte.
    »Warum interessiert Sie das?« Seine Stimme klang schrill und ein wenig verletzend. »Sie haben meine Chancen bei Dora zerstört. War es nicht das, was Sie wollten?«
    »Ich weiß es nicht. Ich habe es Ihnen gesagt, ich kann mich nicht erinnern. Aber es war eine Gemeinheit, und ich möchte wissen, warum ich es getan habe.«
    Runcorn blinzelte. Er war sichtlich aus dem Gleichgewicht geraten. Dies war nicht der Monk, den er zu kennen glaubte.
    Monk beugte sich über den Schreibtisch und blickte auf den anderen Mann hinab. Hinter dem frisch rasierten Gesicht, der Maske der Selbstzufriedenheit, erkannte er einen Mann, dessen Selbstachtung eine Wunde empfangen hatte, die nie verheilt war. Das war Monks Schuld gewesen oder zumindest teilweise seine Schuld. Er mußte herausfinden, warum er sich so verhalten hatte.
    »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Aber ich muß wissen, warum ich es getan habe. Wir haben früher einmal zusammengearbeitet und einander vertraut. Wir sind Seite an Seite nach St. Giles gegangen, ohne jemals am anderen zu zweifeln. Was hat sich geändert? Waren Sie es… oder ich?«
    Runcorn saß so lange schweigend da, daß Monk schon glaubte, er werde nicht antworten. Er konnte draußen das Geräusch schwerer Schritte hören und den Regen, der von der Dachtraufe aufs Fensterbrett klatschte. Gedämpft war das leise Dröhnen des Verkehrs auf der Straße zu hören, und ein Pferd wieherte.
    »Wir beide haben uns verändert«, begann Runcorn

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