Stilles Echo
Stimmen. Rhys war im Zorn fortgegangen. Wir hatten beide geglaubt, er sei nach oben gegangen, in sein Zimmer.« Sie saß sehr aufrecht da, die Hände auf dem Schoß verschränkt. »Als mein Mann hinaufging, um ihr Gespräch fortzusetzen, stellte er fest, daß Rhys nicht mehr da war, und er war sehr wütend. Er ging dann ebenfalls aus dem Haus. Ich glaube, er wollte ihn suchen. Bevor Sie mich danach fragen: Ich weiß nicht, wohin Rhys gegangen ist oder wo Leighton ihn schließlich fand… was er ja offensichtlich tat. Vielleicht ist das die Erklärung für den Überfall?«
»Vielleicht«, wandte Evan ein. »Es ist nichts Ungewöhnliches, daß ein junger Mann fragwürdige Orte aufsucht, Ma’am. Wenn er kein Geld dabei verschwendet oder der Frau eines anderen Mannes seine Aufmerksamkeit schenkt, nimmt man solches Verhalten für gewöhnlich nicht besonders ernst. Vertrat Ihr Mann sehr strenge moralische Anschauungen?«
Sylvestra sah ihn verwirrt an. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, war dies eine Frage, die sie sich noch nie gestellt hatte.
»Er war nicht pedantisch oder selbstgerecht, wenn es das ist, was Sie meinen.« Sie hob die Brauen und sah ihn mit großen Augen an. »Ich glaube nicht, daß er jemals ungerecht war. Er erwartete nicht von Rhys, daß er… abstinent war. Im Grunde war es gar kein… gar kein Streit. Wenn ich diesen Eindruck erweckt habe, lag das nicht in meiner Absicht. Ich habe nicht gehört, worum es eigentlich bei ihrem Gespräch ging, ich habe nur ihre Stimmen gehört. Vielleicht handelte es sich auch um etwas ganz anderes.« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Vielleicht traf Rhys sich mit einer Frau, die… verheiratet war? Davon hätte Leighton mir nichts gesagt. Er hätte mich wahrscheinlich schonen wollen.«
»Das kann durchaus der Fall gewesen sein«, räumte Evan ein.
»Es würde eine Menge erklären. Wenn Ihr Mann die beiden zur Rede gestellt hat, könnte es sehr wohl zu Gewalttätigkeiten gekommen sein.«
Sylvestra schauderte und wandte sich dem Fenster zu. »Aber einen Mord zu begehen? Was für eine Frau könnte das sein? Wären da nicht mehrere Männer notwendig gewesen, um so furchtbare Dinge zu tun?«
»Ja, das stimmt«, pflichtete er ihr leise bei. »Aber vielleicht waren es ja mehrere. Ein Vater oder ein Bruder oder beide.«
Sie hob die Hände und schlug sie vors Gesicht. »Wenn das stimmt, dann hat er Unrecht getan, großes Unrecht, aber eine solche Strafe hat er nicht verdient! Und mein Mann hat überhaupt keine Strafe verdient. Es war nicht seine Schuld!« Unbewußt fuhr sie sich mit ihren schlanken Fingern durchs Haar, so daß eine Nadel sich löste und eine lange, schwarze Locke herausfiel. »Kein Wunder, daß Rhys mir nicht in die Augen sehen kann!« Sie sah zu ihm auf. »Wie soll ich darauf reagieren? Wie soll ich lernen, ihm das zu verzeihen? Und wie soll ich ihn lehren, sich selbst zu verzeihen?«
Hester legte eine Hand auf Sylvestras Schulter. »Zunächst einmal können Sie mir helfen, indem Sie nicht davon ausgehen, daß diese Dinge der Wahrheit entsprechen, solange wir es nicht sicher wissen«, antwortete sie entschieden. »Vielleicht ist das Ganze ja ein Irrtum.« Wenn sie sich an die Szene im Schlafzimmer vergangene Nacht erinnerte und auch an das, was heute vorgefallen war, als Sylvestra ins Zimmer kam, konnte sie sich allerdings sehr gut vorstellen, daß sie mit ihrer Vermutung ganz richtig lagen.
Sylvestra setzte sich langsam und mit bleichem Gesicht wieder aufrecht hin.
Evan erhob sich. »Vielleicht könnte Miss Latterly mich jetzt zu Mr. Duff führen. Ich weiß, daß er nicht sprechen kann, aber vielleicht ist er in der Lage, mir einige Fragen mit einem Nicken oder einem Kopf schütteln zu beantworten.«
Sylvestra zögerte. Sie war noch nicht bereit, sich auch nur den Fragen zu stellen, geschweige denn den Antworten, die Rhys vielleicht geben würde. Und sie war auch nicht bereit, an den Schauplatz zurückzukehren, an dem sie erst vor so kurzer Zeit Zeugin einer Heftigkeit und Schroffheit gewesen war, die sie zuvor nicht an ihrem Sohn gekannt hatte. Hester las es in ihren Augen. Sie konnte dieses Gefühl mühelos erkennen, weil sie dieselbe Antwort hatte.
»Mrs. Duff?« hakte Evan nach.
»Er ist nicht wohl«, sagte Sylvestra und erwiderte mit großer Festigkeit seinen Blick.
»Das stimmt«, bekräftigte Hester. »Er hat eine schlimme Nacht hinter sich. Ich kann Ihnen nicht erlauben, jetzt in ihn zu dringen, Sergeant.«
Evan sah sie fragend
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